Kommentar: Entsetzen nach Sylt-Video kommt zu spät
Das Handy-Video von Sylt mit den ausländerfeindlichen Parolen beschäftigt weiterhin viele. Zurecht hat das in Hamburg und bundesweit Entsetzen ausgelöst. Doch wer die Geschehnisse zum außergewöhnlichen Skandal stilisiert, verkennt die wahren Ausmaße des Problems - meint Tristan Dück in seinem Kommentar.
Junge Feiernde hatten sich dabei aufgenommen, wie sie zum Partyklassiker "L'Amours Toujours" rechtsextreme Parolen skandiert haben: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" wurde laut in einem Club gesungen. Und der Hitlergruß gezeigt. Innerhalb weniger Stunden ging das Video von Sylt viral, insbesondere über das Online-Netzwerk TikTok.
Studentin verliert Job und bekommt Uni-Hausverbot
Doch so rasant sich die rechten Parolen dort verbreiten konnten, so engagiert hat sich auch Widerstand formiert: Die "Schwarmintelligenz" der Community hat schnell die vollen Namen der Feiernden zu Tage gebracht. Forderungen nach Konsequenzen wurden laut. Und die gab es: Eine beteiligte Hamburger Studentin hat ihren Job verloren und muss nach Hausverbot an der Uni nun sogar ihre Exmatrikulation fürchten.
Gesellschaft reagiert spät
Klar, wenn Ausländerfeindlichkeit salonfähig erscheint, dann muss unsere Gesellschaft reagieren. Das hat sie getan, aber - wie ich finde - ganz schön spät. Umso deutlicher haben dafür die jungen Menschen aus dem Pony Club die Härte des Internetprangers zu spüren bekommen. Auch Spitzenpolitik und Medien haben das Video aufgegriffen und eingeordnet - natürlich zurecht. Aber warum denn erst jetzt dieser bundesweite Skandal? Ich finde das naiv.
Ähnliche Vorfälle schon vor Sylt bekannt
Und zwar deshalb, weil ganz ähnliche Vorfälle schon lange vorher bekannt waren. Dass zu "L'Amours Toujours" der rechtsextreme Text gegrölt wird, ist nichts Neues. Auch in Hamburg, in einem Eppendorfer Vereinsheim gab es Anfang Mai einen Fall, in dem die Polizei ermittelt. Seit Herbst kursieren bundesweit solche Videos, auch in Verbindung mit dem Hitlergruß. Schon damals haben Medien berichtet. Trotzdem gab es keinen großen Aufschrei. Bis Sylt. Mit einem Mal brach die Welle der Empörung los, als hätte sie sich davor angestaut. Sie hätte aber jederzeit losbrechen können, Gründe gab es genug, jetzt ist es passiert.
Feiernde auf Sylt nicht Mitte der Gesellschaft
Wer also erst bei Sylt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, der hat nicht mitbekommen, was in unserem Land schon seit Monaten los ist - das ist naiv, vielleicht sogar scheinheilig. Ist es Zufall, dass erst bei einer Party auf der sogenannten Insel der Reichen das große Entsetzen ausbricht? Manche sagen, das Video sei deshalb so erschreckend, weil es rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft zeige. Ich meine: Die, die auf Sylt mit Champagner im Nobelclub feiern, sind nicht die Mitte der Gesellschaft. Die Mitte der Gesellschaft feiert auf Schützenfesten, in Vereinsheimen. Und dort hat es derartige Vorfälle vereinzelt schon früher gegeben.
Ein neues Gesicht der Ausländerfeindlichkeit
Dass ausgerechnet das Video aus dem Pony Club zum großen Skandal geführt hat, das liegt sicherlich auch daran, dass die mutmaßlichen Täter und Täterinnen hier so deutlich erkennbar sind. Sie haben der Ausländerfeindlichkeit ein neues Gesicht gegeben, nämlich das der feiernden High Society. Trotzdem hat die Öffentlichkeit es sich zu einfach gemacht, alles Entsetzen über Sylt zu ergießen. Denn hier gab's weder den ersten noch den schwersten Fall. Nach und nach treten immer mehr Verdachtsfälle zu Tage - zuletzt auch hier bei uns, beim Schlagermove.
Bevor wir uns jetzt also in Empörung verlieren, müssen wir anerkennen, dass die Parolen von Sylt nur die Spitze des Eisbergs sind. Und wir müssen uns fragen, warum die Gesellschaft erst jetzt so deutlich darüber spricht.