Brokstedt: Kein psychiatrisches Gutachten vor Entlassung von Ibrahim A.

Stand: 10.02.2023 21:45 Uhr

Im Fall des mutmaßlichen zweifachen Mörders Ibrahim A., der am 25. Januar im Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen getötet haben soll, gibt es nach Recherchen des NDR neue Ungereimtheiten über die Umstände seiner Entlassung aus der Hamburger Untersuchungshaft.

von Benedikt Scheper

Demnach wurde Ibrahim A. nach der Aufhebung des Haftbefehls umgehend auf freien Fuß gesetzt, ohne dass es eine umfassende psychiatrische Untersuchung über seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit gegeben hatte. Nach Recherchen des NDR handelte es sich bei der psychiatrischen Untersuchung am 18. Januar 2023 um einen von 16 Regelterminen durch einen Psychiater des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf (UKE), nicht um ein Prognose-Gutachten für die Zeit nach der Haftentlassung.

Psychiater wusste offenbar nichts von Haftentlassung

Die Diagnose, es liege keine Fremd- oder Eigengefährdung vor, bezog sich nach NDR Recherchen allein auf die Haftsituation am Tag der Visite, nicht auf eine Zeit nach der Entlassung. Der behandelnde Psychiater wusste nach NDR Informationen zum Zeitpunkt der Untersuchung am 18. Januar 2023 nicht, dass Ibrahim A. kurz vor der Entlassung steht. Es war ein Folgetermin vereinbart. Der Folgetermin war laut NDR Informationen für den 25. Januar 2023 vorgesehen - der Tag, an dem Ibrahim A. in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei Menschen getötet und fünf weitere verletzt haben soll.

"Ibrahim A. war durchgehend psychisch auffällig"

Erstmals äußerten sich jetzt Bedienstete der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder und ein Psychiater vor der Kamera des NDR zu den näheren Umständen der Untersuchungshaft von Ibrahim A. in Hamburg. So konnte der NDR mit dem Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie und Suchtmedizin, Jochen Brack, sprechen. Er hatte das einzige forensische Gutachten zu Ibrahim A. während dessen Haftzeit erstellt. Brack untersuchte Ibrahim A. im Juli 2022.

Im Gespräch mit dem NDR sagt Brack, Ibrahim A. sei während seiner Inhaftierung durchgehend psychisch auffällig gewesen: "Zum Zeitpunkt meiner Begutachtung im Juli 2022 war er sicher erkrankt an einer Abhängigkeitserkrankung - mit dem Schwerpunkt wohl Kokain, aber wohl auch Opioide. Und zum zweiten stellte sich das Erkrankungsbild einer wahnhaften Störung beziehungsweise psychotischen Reaktion im Rahmen der Inhaftierung dar." Ibrahim A. wurde deshalb auch auf einer sogenannten Sicherungsstation untergebracht.

Während seiner Haftzeit wurde Ibrahim A. nach Auskunft der Hamburger Justizbehörde 16 Mal von einem weiteren Psychiater besucht. Am 18. Januar sprach Ibrahim A. zum letzten Mal mit diesem Psychiater, einen Tag später wurde er auf Anordnung eines Hamburger Gerichts aus der Haft entlassen, weil der Verurteilte seine Strafe fast vollständig durch die Untersuchungshaft verbüßt hatte.

JVA-Mitarbeiter: "Wir wurden mit Sicherheit zu wenig gehört"

Der NDR konnte zudem in einem anonymisierten Interview mit einem JVA-Beamten sprechen, der Ibrahim A. während seiner Haft in Hamburg erlebt hatte. Demnach sei Ibrahim A. ein sehr anstrengender Insasse gewesen. Er habe die Beamten zeitweise 24 Stunden am Tag beschäftigt.

Der JVA-Mitarbeiter beklagt die fehlende Anhörung des JVA-Personals: "Da wurden wir mit Sicherheit zu wenig gehört. Der Psychiater hätte das wahrscheinlich ganz anders gesehen, wenn er unsere Erkenntnisse gehabt hätte. Dann hätte er gesehen: Das ist keiner, den man einfach so freilaufen lassen kann, sondern den man wieder geschlossen und dementsprechend professionell behandelt unterbringen muss, um so etwas Schlimmes zu vermeiden."

Vergleich mit Attentäter vom Breitscheidplatz

Zuletzt war bekannt geworden, dass Ibrahim A. sich in der Untersuchungshaft auch mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz Anis Amri verglichen hatte. Demnach sagte Ibrahim A. im August 2022 zu Gefängnis-Bediensteten: "Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer."

Amri hatte 2016 einen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gesteuert. Bei dem Anschlag waren 13 Menschen gestorben.

Strukturelle Defizite im "Entlassungsmanagement" bemängelt

Der Verband der Strafvollzugsbediensteten sieht strukturelle Defizite im sogenannten Entlassungsmanagement. Wenn Insassen auffällig sind oder terroristische Tendenzen äußern - wie Ibrahim A. - müssten laut René Müller, Bundesvorsitzender der Strafvollzugsbediensteten, die Beamten vor Ort mehr nach ihrer Einschätzung der Häftlinge befragt werden: "Wie hat sich ein Gefangener auf der Station bewegt? Gab es irgendwelche Vorfälle? So etwas müsste doch eigentlich ein Richter abfragen. So etwas müsste doch eigentlich ein Psychiater abfragen. Ich weiß nicht, ob das hier passiert ist. Aber das gehört für mich zur Kommunikation dazu, damit man sich ein Gesamtbild machen kann über den, der zu entlassen ist, und ob vielleicht weiterführende Maßnahmen notwendig sind."

Justizbehörde: Bis zum Schluss diverse Unterstützungsangebote

Hamburgs grüne Justizsenatorin Anna Gallina lehnte ein TV-Interview zu den NDR Recherchen ab. Schriftlich teilte sie mit, dass man sichergestellt habe, dass Ibrahim A. die Anlaufstellen zur Übernachtung (Winternothilfe) bekannt waren. Ebenfalls seien Ibrahim A. die Adressen von Drogenhilfe-Einrichtungen in Kiel bekannt gegeben worden.

Wörtlich erklärt die Justizbehörde gegenüber dem NDR:

"Nach Aufhebung des Haftbefehls durch das Landgericht Hamburg gab es keine rechtliche Grundlage, Ibrahim A. weiterhin festzuhalten. Im Rahmen der Untersuchungshaft hat er bis zum Schluss diverse Unterstützungsangebote erhalten. Gleichwohl prüfen wir gegenwärtig verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten. Das betrifft auch die gesetzlichen Mitteilungspflichten, die hier nicht alle eingehalten wurden."

 

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