Welt der Musik

Universalkünstler und Freund zerbrochener Seelen - Heinz Holliger zum 85. Geburtstag

Montag, 20. Mai 2024, 17:00 bis 18:00 Uhr

Komponist, Dirigent und Oboist Heinz Holliger © Dániel Vass
Komponist, Dirigent und Oboist Heinz Holliger © Dániel Vass
Heinz Holliger

"Musik ist ein ganzer Kosmos, da gehört alles zu allem, das kann man nicht in kleine Scheiben schneiden." Das sagt einer, der selbst so etwas wie ein Kosmos ist, einer, der musikalische Vielseitigkeit verkörpert wie in unseren Zeiten nur wenige Musiker: der Schweizer Heinz Holliger. Er ist Oboist, Komponist, Dirigent und Lehrer, dazu ein exzellenter Pianist. "Wenn man mir Musik verbietet, das wäre wie, wenn man mir das Atmen verböte."

Musik kann man nicht in Scheiben schneiden

Der Universalkünstler Heinz Holliger - geboren am 21. Mai 1939 im Kanton Bern - zählt heute zu den wichtigsten und bedeutendsten Komponisten. Es gibt Musik in allen Gattungen von ihm: Bühnenwerke, Orchester-, Solo- und Kammermusik und Vokalwerke. Als Interpret hat er maßstabsetzende Einspielungen realisiert, vom Barock bis in unsere Zeit als Oboist - als Solist und Kammermusiker, als Partner großer Kollegen, darunter seine Frau, die Harfenistin Ursula Holliger. Als Dirigent hat Heinz Holliger Orchester wie die Wiener Philharmoniker oder das Chamber Orchestra of Europe geleitet, er hat nicht nur seine eigenen Werke eingespielt, sondern auch Musik von Alban Berg oder Béla Bartók, von Mozart oder das gesamte sinfonische Werk von Robert Schumann, alle Sinfonien und Ouvertüren von Franz Schubert.

Kunst, Atem, Klang - Singen im Sopran

Heinz Holliger wächst in einem kunstsinnigen Umfeld auf. "Mein Vater war Arzt und sehr interessiert an Wissenschaft, aber er war ein ziemlich hochbegabter Geiger, der leider nie geübt hat, aber der die schwierigsten Stücke auf der Geige gespielt hat, wie das Violinkonzert von Max Reger." Die Mutter spielte Klavier und habe ein phänomenales Gedächtnis gehabt, etwas, wovon Heinz Holliger später als Musiker profitieren sollen. Der ältere Bruder Erich war Theater-Regisseur. Zuerst, mit sechs Jahren, beginnt Heinz Holliger mit dem Klavierspiel, mit zehn kommt die Oboe dazu. "Die Verbindung von Atem und Klang war für mich immer sehr wichtig. Ich habe leider viel zu spät in einem Kinderchor gesungen, da war ich schon fast im Stimmbruch. Ich glaube, die Oboe ist meine kaputte Sopranstimme, die ich so perpetuieren konnte." Singen im Sopranregister ein Leben lang.

Studium bei Sándor Veress und Pierre Boulez

Früh entstehen auch erste Kompositionen. Die seien, verrät der 85-jährige Holliger, natürlich erstmal epigonal gewesen, beeinflusst von Komponisten, die er verehrte: Debussy oder Alban Berg. Schon während der Schulzeit studiert der Teenager am Konservatorium Bern Oboe und Komposition bei dem Ungarn Sándor Veress, einem Schüler von Béla Bartók. Später hat Heinz Holliger bei Pierre Boulez Unterricht. Ein Glück sagt er: "Bei Veress habe ich Dinge gelernt, die hätte ich nie bei Boulez lernen können: Polyphonie, Kontrapunkti, ganz strenge Formen, Sinn für große Phrasen, aber weniger ein feines Empfinden für komplexe Harmonik und Farben. Und genau das habe ich dann bei Boulez sehr gut gelernt."

Ein Freund zerbrochener Seelen

In seiner Musik lotet Heinz Holliger Grenzen, Grenzerfahrungen aus. Physische Grenzen etwa als Bläser. Akustische Grenzen, Grenzen des Hörbaren, menschliche, psychische Grenzen des Lebens, Wahnsinn und Tod. Die musikalischen Mittel haben sich über die Jahrzehnte gewandelt. In den 1960er und 70er-Jahren stehen neben extremen geräuschhaften Elementen besonders physische Aspekte der Klangproduktion im Zentrum - wie der Atem, das Lebenselixier des Oboisten Heinz Holliger. Das ändert sich Mitte der 1970er-Jahre. Expressivität, Extrovertiertheit weichen einer introvertierten, distanzierten, auch statischen Musiksprache. Das wichtigste Werk ist hier der zwischen 1975 und 1985 entstandene "Scardanelli-Zyklus". Ein "Klangtagebuch", wie Holliger sagt, nach den späten Jahreszeiten-Gedichten von Hölderlin, der diese Gedichte mit Scardanelli unterschrieb.

"Hölderlin war vielleicht gar nicht verrückt? Seine engsten Freunde haben gesagt, es sei nur eine angenommene Geistesart. Durch diese Krankheit ist er auch der Verhaftung entgangen. Alle seine Freunde kamen auf den Hohenasperg, die wollten eine schwäbische Republik gründen. Hölderlin ist in Psychiatrie gekommen." Heinz Holliger hat sich auch in anderen Werken mit großen Künstlern auseinandersetzt, etwa mit den Schriftstellern Robert Walser und Nikolaus Lenau in seinen beiden großen Opern. Es sind Persönlichkeiten, die sehr stark mit den seelischen Abgründen des Lebens, zu kämpfen hatten.

Musik und Körper als Einheit

Bis heute ist Heinz Holliger als Komponist und Dirigent aktiv, und in seinem hohen Alter sogar als Oboist. Wie er das macht? "Vielleicht liegt es daran, dass die Musik ganz zu meinem Körper gehört, dass es eine Einheit ist, wenn ich nicht Musik mache?" Und wie sieht der Universalmusiker die Zukunft? "Ich bin dankbar für jeden Tag, wo ich gesund, und wo ich vor allem unglaublich Freude habe am Leben, am Musik machen. Das ist ein Lebenselixier!"

Eine Sendung von Elisabeth Richter.

 

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