Nachgedacht: "Reichsbürger" und politische Fantasien
"Reichsbürger" planten den Umsturz in Deutschland: Das war, wie wir seit dieser Woche wissen, Realität. Zeit, über Fantasie nachzudenken, findet Ulrich Kühn in seiner Kolumne.
Man gewöhnt sich zum Glück an manches. Und gewöhnt sich leider an vieles. Könnten wir uns zum Beispiel nicht an eine neue Umgebung gewöhnen, wären wir nach einem Umzug verloren. Wir können es aber doch. Das ist überaus nützlich - und kann sehr gefährlich werden.
Vor ein paar Jahren war es noch undenkbar, sich das grotesk in der Gegenwart herumlümmelnde Wort "Reichsbürger" ohne Anführungszeichen vorzustellen. Die krude Idee vom "Reichsbürgertum" wollte aber nicht wieder gehen. Und nach einiger Zeit hatte man sich so daran gewöhnt, dass die Anführungszeichen allmählich verschwanden.
Fantasie befreit den Geist aus dem Gefängnis der Gegenwart
Es gab nun einmal diese Wirrköpfe, diese Untoten aus verblichener Zeit, die in ihren sentimentalen, irrationalen, von Gefühlen des Zurückgesetzt-Seins strotzenden Fantasien schwelgten. Sollten sie mal. Was hatte das schließlich mit der Wirklichkeit zu tun? Es waren doch nur Fantasien.
Die Fantasie schillert aber noch heftiger als die Gewöhnung. Sie kann einerseits großartig sein: Sie befreit den Geist aus dem Gefängnis der Gegenwart, sie macht überhaupt erst möglich, sich das Menschengeschlecht als ein besseres vorzustellen und diese Vorstellung in eine schönere Zukunft vorauszuwerfen. Fantasie ist nicht nur eine Traumkraft, sie ist auch eine Entwicklungskraft. Und ist nicht nur eine Fluchtoption, sondern eine Verheißung auf Rettung. Fantasie ist schlechthin human. Und drängt auf Verwirklichung.
Utopische Blütenträume, totalitäre Realitäten
Leider bedeutet das andererseits, dass sie auch der Grausamkeit den Boden bereiten kann. Nicht aus Zufall gehören Gewaltfantasien zum Leben. Mal sorgen sie für eine harmlose Triebabfuhr, dann wieder helfen sie Kriminellen, boshafteste Taten zu planen. Und natürlich ist es auch kein Zufall, dass sich solche Gedanken melden, wenn es um die "Reichsbürger" geht. Wir haben ja gesehen, wohin ihre Größenfantasien und Umsturzfantasien die Menschen führen, die sich als "Reichsbürger" imaginieren. Ob Richterin oder Ex-Offizier, wo die Umsturzfantasie mit dem Fantasierenden durchgeht, wird es kriminell gefährlich.
Und weil das so ist, müssen wir über die Fantasie in der Politik sprechen. Wo es politisch wird, darf man der Fantasie gerne skeptisch gegenübertreten. "Hallo, Fantasie, Hut ab vor deinen Verdiensten", kann man zum Beispiel rufen. "Du bringst wirklich was voran! Ohne dich lebten wir noch in der Monarchie, Frauen hätten kein Wahlrecht, die Mauer stünde bis jetzt. Verneigung! Aber, politische Fantasie: Viel zu oft haben deine utopischen Blütenträume totalitäre Realitäten hervorgebracht. Dein blutarmes Gegenstück wiederum, die Realpolitik, kann ein mittlerer Segen sein." So, in etwa, könnte man rufen.
Fantasierahmen menschlicher Realpolitik
Wenn Realpolitik nämlich wirklich gut ist, hantiert sie mit dem real Vorhandenen so realistisch fantasievoll, dass sie aus der Demokratie, diesem ollen Mängelwesen, das beste Menschliche hervorkitzelt. Der Fantasierahmen menschlicher Realpolitik ist also gar nicht so klein. Und totalitäre Utopien oder Umsturzfantasien haben darin strikt nichts verloren. Da mag der Mensch noch so adlig sein: kriminell bleibt kriminell.
Die jüngsten Umsturzfantasien reiften ja, weil sich der Scheinriese "Reichsbürger" als Zwerg Bundesbürger fühlen wollte. Derart realitätsbefreite Ressentiments sind rationalen Argumenten nicht zugänglich, man muss sie entschlossen bekämpfen. Das Kunststück ist dann, die Fantasie trotzdem hochzuhalten. Sie macht beglückend menschlich - aber nur, wenn wir sie gut zu gebrauchen wissen.