NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

Nachgedacht: Mensch sein

Stand: 02.02.2024 06:00 Uhr

Gedenkstunde und Haushaltswoche, Erschütterung und Empörung, Weisheit und Wut - viel los im Bundestag diese Woche, viel Nachdenkenswertes, findet Alexander Solloch.

von Alexander Solloch

Ein Mensch sein, wie geht denn das nur? Der pensionierte Sportreporter Marcel Reif hat dem Bundestag in der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einen Satz geschenkt; einen Satz, mit dem ihm, so erzählte er, sein Vater bis heute durchs Leben hilft. Leon Reif, ein Überlebender des deutschen Vernichtungswahns, hat bis zu seinem Tod 1994 geschwiegen über das, was er in den Jahren der Verfolgung hatte erleben müssen. Gesagt aber hat er seinen Kindern diesen Satz, und Marcel Reif hat ihn im Deutschen Bundestag wiederholt: "Sei ein Mensch."

Das Bösartigste, was je im Deutschen Bundestag geschehen ist

Am selben Ort hat ziemlich genau 24 Stunden zuvor ein Abgeordneter der AfD, Martin Reichardt, die berühmtesten Worte von Otto Wels missbraucht - die nämlich, die der SPD-Vorsitzende am 5. März 1933 in der letzten freien Rede im Deutschen Reichstag Hitler zugerufen hatte, damals, in allergrößter, existenzieller Not: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!" Dass dieser Reichardt nun meint, sich 91 Jahre danach im freisten Deutschland aller Zeiten in die Pose des verfolgten Oppositionellen werfen und Wels' Worte theatralisch für sich vereinnahmen zu müssen, ist, falls es überhaupt noch ein Wort dafür gibt, so ziemlich das Bösartigste, was je im Deutschen Bundestag geschehen ist. Wer da vor Wut platzen will, hat zwar prinzipiell recht, muss es aber dennoch sein lassen, denn erstens wollen diese Leute ja nichts als unsere Wut; und zweitens: "Sei ein Mensch."

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Das Innere von AfD-Leuten: Nichts hält auch den allergrößten Blödsinn auf

Sei ein Mensch - es klingt ganz einfach. Man möchte am liebsten gleich damit anfangen. Nur ist das Einfache oft auch so kompliziert. Was heißt denn das eigentlich? Ich frage mich, frage Sie, frage uns - neugierig, ratlos und so unrhetorisch wie nur was: Könnte es nicht vielleicht auch bedeuten, dass man momentweise versuchen muss, irgendwie zu verstehen, was denn in so einen Menschen gefahren ist? Der hat doch nicht als Jugendlicher beim Blättern im Geschichtsbuch beschlossen: "Wenn ich groß bin, bin ich bestimmt genauso verfolgt wie Wels, damit ich diesen grandiosen Satz auch mal sagen kann!"

So etwas darf man ja, wenn's denn unbedingt sein muss, ruhig mal denken. Aber normalerweise walten doch in jedem Menschen recht zuverlässige Mechanismen - natürliche Barrieren aus Scham und Vernunft -, die zumindest außerhalb des Fußballstadions verhindern, dass man all den Quatsch, den man so denkt, auch tatsächlich zu- und durchlässt. Im Inneren von AfD-Leuten hingegen: überall offene Grenzen. Nichts hält auch den allergrößten Blödsinn auf. Das ist doch seltsam. Wie kann man das verstehen, als Mensch im Angesicht von Menschen?

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Wir können alle Menschen sein

Immerhin recht interessant ist, was dann geschah im Bundestag. Als ihm Sönke Rix aus der SPD-Fraktion entgegenhielt, niemand aus der AfD habe das Recht, Otto Wels zu zitieren, rief Martin Reichardt laut Plenarprotokoll: "Selbstverständlich! Mein Vater ist länger Sozialdemokrat, als Sie überhaupt leben!" Ach, wenn man nur ein bisschen mehr von Psychologie verstünde - vielleicht begreife man dann, warum oder wodurch Menschen rechtsradikal werden.

Aber was heißt das denn nun: "Sei ein Mensch"? Der Versuch, sich diesen freundlichen Imperativ ins Alltägliche zu übersetzen, gleicht einer lebenslangen Reise. Auf der gegenwärtigen Etappe, in einigermaßen umtoster Zeit, fällt mir dies ein als Bitte an Lehrer, Mütter, Väter, Bürger, mich selbst, uns alle: Bestärke, ermuntere, kräftige junge Menschen, fülle sie an mit Hoffnung und Selbstvertrauen. Vertraue auch dir selbst und der Möglichkeit, dass man irren und sich ändern kann. Menschen sind wir doch alle, können es sein.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 02.02.2024 | 10:20 Uhr

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