Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Zeitenwende - Zivildienst bereuen? Nein, danke

Stand: 03.03.2023 06:00 Uhr

Die Diskussion über eine stärkere Bundeswehr ist in vollem Gang. Als es die Wehrpflicht gab, konnte man aber auch anders Dienst tun. War das falsch? Ulrich Kühn denkt nach.

von Ulrich Kühn

Zu Zeiten der Wehrpflicht konnte man auch anders Dienst tun. War das aus heutiger Sicht falsch? Ulrich Kühn denkt nach.

Wie weit geht die Zeitenwende, hat sie überhaupt stattgefunden? Aber ja, und wie: "Putin verkalkuliert sich", hat der Kanzler gestern im Bundestag gesagt, "wenn er glaubt, dass die Zeit für ihn spielt." Denn dies ist eine andere Zeit. Diese Zeit, sie spielt nicht mehr. Und für Putin schon gar nicht.

Nicht alle sehen es wie der Kanzler. Vielen geht diese Wende zu langsam und vor allem nicht weit genug. Nicht immer zeigt der Finger dabei auf Wendemeister Scholz, der seinen Ehrentitel "Zöger-Zauder-Chef aller Klassen" stoisch und jederzeit selbstbewusst durch die Weltgeschichte trägt. Die Bundesaußenministerin erklärte kürzlich, Putin müsse schon eine 360-Grad-Drehung hinlegen, damit die Ukraine sich wieder sicher fühlen könne. Der Spott der Anti-Baerbockianer war groß. Wie denn, man dreht sich komplett um sich selbst, hat wieder denselben Kurs im Blick, und das soll die Wende sein? Keine Frage, 180 Grad wären schlüssiger gewesen. Schließlich guckt man nach einer halben Pirouette in die entgegengesetzte Richtung. Gewissermaßen rückwärts, wenn man die Sache räumlich denkt. Oder rückwärts in der Zeit.

Erneute Gewissensprüfung zur Frage nach dem Militärdienst

Diese Drehung ist jetzt beliebt. Mancher Zeitengewendete schaut streng zurück aufs eigene Leben. Und entdeckt einen Fehler: Er hat Zivildienst geleistet und bereut es vor aller Welt. "J’accuse", ruft er erschüttert aus, "ich klage an, und zwar mich! Ich habe jetzt eingesehen, dass ich damals zum Bund hätte gehen müssen." Das geht bis zum Widerruf der Verweigerung per Brief ans Amt. Ein entsprechendes Bekenntnis konnte man im SPIEGEL lesen.

Als Mensch, der manchmal ins Zweifeln verfällt; dem allzu eindeutige Antworten auf die drängenden Fragen des Kriegs unvollständig vorkommen; der den Antritt von Wagenknecht-Schwarzer für deutlich zu kurz gedacht und falsch hält, der aber zugleich beklagenswert findet, wie vehement-ordinär dem Philosophen Jürgen Habermas sein Nachdenken über notwendendes Verhandeln verwiesen wurde, als hätte ein unartiger Bub sich nicht sauber gekämmt - als Zeitgenosse also, dem autoritär-selbstgewisse Töne in der Debatte suspekt sind, habe auch ich mich geprüft. Und bin zum Ergebnis gekommen: Ich bereue nicht. Meine Entscheidung für den Zivildienst war richtig. Warum? Weil sie, wie gefordert, eine Gewissensentscheidung war.

Zivildienst zu leisten war sinnvoll verbrachte Zeit

Wer wäre ich, den jungen Kerl zu verdammen, der vor gut dreieinhalb Jahrzehnten mit sich zu Rate ging und auf vielen von Hand beschriebenen Seiten seine Entscheidung begründete? Man darf sich ändern im Lauf eines Lebens. Man kann, wie ich jetzt, der Meinung sein, dass es verhängnisvoll wäre, wenn sich niemand fände, der für die Bundeswehr arbeiten will. Und kann trotzdem sagen: Damals, nach ehrlicher Selbstbefragung, kam ich für mich zu dem anderen Schluss. Die Overkill-Logik des Kalten Kriegs verfolgte mich in die Träume, die Vorstellung, andere töten zu müssen, fand ich schwer erträglich. Aber ich mag mich keinesfalls dafür selbst erhöhen. Wer seinerzeit zum Bund ging, hatte auch seine guten Gründe.

Heute denke ich selbst in manchem anders als damals. Und wäre es nicht traurig, wenn nicht? Schließlich hat man gelebt! Aber die zwanzig Monate Zivildienst, die bereue ich nicht. Ich konnte Menschen helfen, konnte ihnen den Alltag erleichtern, konnte ihre Einsamkeit lindern. Eine Frau habe ich in Nachtwachen auf den Tod zu begleitet, ich höre sie noch "Ulrich" rufen, wenn sie Hilfe brauchte oder mich bitten wollte, ihr etwas vorzulesen. Es war zu guten Teilen sinnvoll gefüllte Zeit, man muss sie nicht für nichtig erklären, weil jetzt Zeitenwende ist. Ich bin gewiss kein Held, aufrecht-haltungsfest bis zum Letzten. Doch den Zivildienst im Nachhinein als einen Fehler bezeichnen: Das mögen andere tun. Aus Überzeugung vielleicht. Oder als Zeitenwendehälse. Ich möchte lieber nicht.

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

Der NDR | NachGedacht | 03.03.2023 | 10:20 Uhr

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