NachGedacht: Schrei! Mich! An! Die Welt im Trump-Delirium
Keine zwei Wochen bis zur US-Wahl: Harris gegen Trump. Wer Medien konsumiert, hat schnell eine Überdosis intus. Muss das sein? Gedanken von Ulrich Kühn.
"Es gibt eine geheime Allianz zwischen Trump und Putin. Harris hält Trump für einen Faschisten. US-Justizministerium warnt Elon Musk wegen Millionengeschenken an (Trumps) Wähler." Ach, und die noch: "Ex-Model wirft Donald Trump vor, sie begrapscht zu haben." Das waren am Donnerstagmorgen, von oben nach unten gelesen, die Schlagzeilen im Online-Auftritt des "Spiegel". Es folgte: "Die drei Probleme von Kamala Harris - und was sie dagegen tut." Dann endlich, auf Platz sechs, ein völlig anderes Thema: Der neue "Spiegel"-"Loveletter" klärt auf über "Die Orgasmusgerechtigkeit".
Die Atemlosigkeit des Medienbetriebs
Verrückte Schlagzeilen-Kaskade, oder? Es steckt so viel drin: Sie vermittelt die Verzweiflung vor der dräuenden Zweitwahl Trumps zum zweitmächtigsten Mann der Welt nach Elon Musk. Offenbart die Atemlosigkeit des Medienbetriebs auf seiner rastlosen Suche nach Wirkung in einer Welt zersplitterter Aufmerksamkeit. Und zeigt das hektische Buhlen um "Loveletter"-Zielgruppen, damit man den Anschluss nicht verliert. Sagen, was ist: Das alte "Spiegel"-Motto muss sich in der schönen neuen Welt mit seltsamen Ruderbewegungen durchschlagen. Grundsätzlicher gesagt: US-Wahl mal fünf plus "Loveletter" - voilà, unsere verrückte Welt in der Nussschale.
Der Wert der Nachrichten
Natürlich ist es fürchterlich, wenn ein Bündnis zwischen Trump und Putin existiert, aufgedeckt von Bob Woodward, dem Watergate-Enthüller. Natürlich ist es eine Nachricht, wenn Kamala Harris Trump für einen Faschisten hält, wie auch Trumps Ex-Stabschef Kelly, der miterlebt hat, wie der größte Präsident aller Galaxien über Hitler bramarbasierte. Natürlich wollen wir es erfahren, wenn das US-Justizministerium Elon Musk wegen seiner Geschenke mahnt - Geschenke an Menschen, die der stabil geniale Tesla-Papst durch die Aussicht auf einen Eine-Million-Dollar-Gewinn anlockt, damit sie eine Petition zugunsten Trumps unterschreiben. Und wenn eine Frau Trump vorwirft, der medial großgepäppelte "You-are-fired"-Sexist habe sie begrapscht - dann wird diese Nachricht nicht dadurch wertlos, dass es ähnliche schon in der Vergangenheit gab.
Der Beat der News dröhnt und rumst
Es ist nur so: Das alles brüllt so laut und schnappatmet dermaßen aufgeregt, dass man kaum noch weiß, wie das fühlende Hirn dazwischenkommen soll. Ich würde mich, alles in allem, zu den Medien- und Nachrichtenjunkies zählen, jederzeit offen für Informationen, auch solche, die nicht bestätigen, was man schon zu wissen glaubte, bereit, Unbekanntes zu hören und, soweit der Kopf noch mitspielt, Neues zu lernen. So riskant es ist, von sich auf andere zu schließen: Wenn es schon meinesgleichen immer öfter zu viel wird, ist das kein gutes Zeichen. Wenn der Beat der News nur noch dröhnt und rumst, wenn die Lautsprecher nur noch kreischen und fiepen, ist etwas aus der Balance.
Ignoranz ist keine Lösung - mehr Sachlichkeit und Zuhören
Natürlich ist der "Spiegel" nicht schuld, wenn die Welt entgleist, kein Medium ist schuld daran. Umso wichtiger ist das zuträgliche Maß - bei der Aufklärung darüber, dass die Welt, also wir, offenbar an Verrücktheit leidet; und beim Umgang mit dieser Diagnose. Da sind beide Seiten gefragt. Etwas mehr Sachlichkeit einerseits, etwas mehr Offenheit andererseits, leiser sprechen, genauer zuhören: Es könnte ein zarter Anfang sein. Natürlich ist das ein frommer Wunsch. Aber Ignoranz ist erst recht keine Lösung. Was auch immer geschieht, die Ohren müssen offenbleiben, wie sehr die Welt auch kreischt und fiept. Sonst sausen wir alle in den Schlund. Es wäre eine Million Mal übler als eine verrückte Schlagzeilenhäufung.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.