NachGedacht: Herr Merz und sein Gewissen
Friedrich Merz hat die Unterstützung der AfD zur Durchsetzung eines Antrags in Kauf genommen. Er hat sich auf sein Gewissen berufen. Erstaunlich, meint Ulrich Kühn.
Eins glasklar vorweg. Dies ist keine Parteinahme. Ich folge keiner Agenda, ich bin kein Aktivist. Ich stelle nur Fragen. Gewissensfragen. Es ist in all dem Lärm, der Ruchlosigkeit, der Entrüstung, dem Feixen und der Zerknirschung fast untergegangen, dass der Christdemokrat Merz sich im Deutschen Bundestag einen Auftritt als neuer Luther gegönnt hat. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, mein Gewissen verlangt es. Amen.
Fragen an das Merz-Gewissen
Ungewöhnlich genug, dass der Chef der größten Oppositionsfraktion einen Antrag mit Verweis auf sein Gewissen begründet. Gemeint war wohl ungefähr: Mir ist klar, dass ich nur eine Mehrheit bekomme, wenn die AfD mit mir stimmt, die eigentlich nicht mit mir stimmen soll, wir arbeiten ja niemals-nicht zusammen. Allein, ich kann nicht anders. Nun, wenn dies das Ergebnis seiner Gewissensbefragung war: Ich hätte dann auch noch ein paar Fragen an das Merz-Gewissen.
Hast du, Gewissen von Friedrich Merz, dich wie er darauf beschränkt, nicht rechts, nicht links zu schauen? Und hast dich gar nicht erst gefragt, ob es angemessen ist, den rechtlich umstrittenen Antrag zu dem eminent wichtigen, stark problembehafteten, umkämpften und von Lebenslügen allerseits umstellten Migrationsthema im Bundestag beschließen zu lassen: exakt an demselben Tag, an dem in diesem Bundestag der Opfer des Holocaust gedacht wird? Hast du, liebes Merz-Gewissen, dann auch nicht weitergefragt, in welchem Bezug das steht zur Holocaustrelativierung durch Mitglieder jener Partei, deren Zustimmung die CDU für diesen Antrag brauchte?
Eine Natter am Hals
Hast du, Gewissen des Friedrich Merz, nicht wenigstens den Weitblick gehabt, vorauszuahnen und dich dazu zu verhalten, was nach Bekanntgabe des Ergebnisses im Bundestag zu besichtigen war? Die Versteinerung der im Saal verbliebenen Christdemokraten, die doch für den siegreichen Antrag gestimmt hatten, während jene sich in den Armen lagen, die den Sieg, der in Wahrheit ihrer war, als Start in die neue Zeit bejubeln? Hattest du dich gründlich gefragt, was das für die Zukunft bedeutet? Und hat dein Inhaber Merz dann auch hören wollen, was du dazu zu sagen hattest? Dass man sich - es sind seine Worte! - eine "Natter" an den Hals holt, eine Natter, von der man erwürgt wird?
Das schweigende Merz-Gewissen
Wann genau hast du, Merz-Gewissen, deine Stimme erhoben? Am Tag der tönenden Ankündigung, nun werde endlich gehandelt - aber um den Preis, dass - es lässt sich objektiv sagen - Merz sein Novemberwort breche, das da besagte, er sei dagegen, auch nur ein einziges Mal mithilfe der AfD eine Mehrheit zustande zu bringen? Am Tag, als die Kirchen den Plan des führenden Christdemokraten entschieden verurteilt haben? Oder in der Fraktionssitzung, in der sicher allen Abgeordneten von CDU und CSU ebenfalls freigestellt wurde, ihrem Gewissen zu folgen - was, Sensationen gibt's, in jedem einzelnen Fall, eine Ausnahme ausgenommen, zum gleichen Ergebnis führte? Ach was, von wegen Gewissen, es wurde ja namentlich abgestimmt.
Wann wurdest du wach, Gewissen?
Oder wurdest du richtig wach, als der Kandidat Merz, zwei Meter hoch Häufchen Elend, wieder ans Pult geschlichen kam, um sein Bedauern auszudrücken über diese Mehrheit, die er selbst ermöglicht hatte? Und als er dies aber gleich wieder zurücknahm und die Verantwortung für Tag und Verlauf ausschließlich anderen hinschob - was hast du ihm da geflüstert, liebes Merz-Gewissen? Soll das nun so weitergehen, von Gesetzesentwurf zu Gesetzesentwurf? Das Merz-Gewissen an der Macht? Bist du, Gewissen des Friedrich Merz, ein für Taktik offenes Gewissen? Also, mit Luthers Maß, am Ende doch nicht ganz das, was man erwarten darf, wenn einer so pathetisch auf sein Gewissen pocht? Wirst du selektiv gehört? Bei Bedarf zur Schau gestellt? Sprichst du nur, wenn es passt? Oder eben nicht?
So viele Fragen. Um Antwort wird dringend gebeten. Man möchte doch präzise wissen, wer auf dieser Gewissensbasis Deutschlands Kanzler werden will.
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