NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
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AUDIO: Gefrorene Gegenwart (3 Min)

NachGedacht: Gefrorene Gegenwart

Stand: 16.06.2023 06:00 Uhr

"Verweile doch, du bist so schön". Dass man das tatsächlich mal sagt, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil man die Schönheit des Augenblicks immer erst Jahrzehnte später erkennt.

von Alexander Solloch

Der Fortschritt ist keine Schnecke, sondern ein Marder: Gnadenlos zerfetzt er, was einem bis dahin gut und praktisch erschien. Dann setzt er einem etwas vor als vermeintliche Verbesserung, die alles nur noch viel schlimmer macht. Ist ja logisch: Wenn das, was schon gut ist, verbessert wird, ist es anschließend nicht mehr gut.

Die Tücken des Induktionsherdes

Die bedrückendsten Verheerungen unseres Fortschrittwahns hat zweifellos die Erfindung des Induktionsherdes angerichtet. Elektroherde waren doch gut, und das Essen war lecker! Warum dann was ändern? Nur aus Angst vor dem Ergebnis versuche ich nicht zu ermitteln, wie viel herrlicher Milchreis in den letzten zwanzig Jahren ungekocht geblieben ist, weil es dem Menschen psycho- und physiologisch nicht möglich ist, einen Induktionsherd zuverlässig richtig zu bedienen.

Es hängt ja offenbar vom Stand des Mondes am dritten Freitag im Monat ab, ob die Winde, die beim Ausatmen aus allen beiden Nasenlöchern strömen, die von ihnen anvisierte Herdplatte in Gang setzen oder die daneben … oder gar keine. An anderen Tagen kann man schlechterdings auf die Platte hämmern, und es passiert nichts. Das ist ja auch der Grund, warum die Induktionsherd-Propagandisten so leichthin behaupten, von diesem Wahnsinnsgerät gehe kaum noch Brandgefahr aus. Ein Herd, der nicht angeht, verursacht natürlich kein Inferno; aber eben auch keine beglückenden Bratkartoffeln.

Die Welt durch Verbesserung verschlimmern

Oder die Sache mit dem Plastikflaschendeckel: Sollte der Fortschritt nicht auch dazu beitragen, die Würde des Menschen zu schützen? Man kann natürlich immer noch versuchen, elegant auszusehen, wenn einem beim Trinken ein Verschluss im Nasenloch herumhängt (womit ja immerhin schon gewährleistet ist, dass der Induktionsherd nicht versehentlich seine Arbeit aufnimmt), aber schwierig ist das. Die EU-Kommission will es so: Der Deckel soll sich nicht mehr von der Mehrwegflasche trennen lassen, damit er nicht im Müll landet, sondern im Wiederverwertungskreislauf bleibt.

Aber muss man den Menschen deshalb gleich das Trinken ganz und gar verleiden? Sie sind doch verständig. Man kann doch mit ihnen reden! Ein paar Schockbilder auf jeder Flasche, die das Schicksal von in Zigarettenstummeln und sonstigem Hausmüllschleim versunkenen Deckeln abbilden, hätten zweifellos Wirkung gezeigt. Wenn nun aber die allzu tätige Menschheit niemals rasten kann im Bestreben, die Welt durch Verbesserung zu verschlimmern, dann möge sie doch bitte mal all ihren Einfallsreichtum zusammennehmen und den Freezer erfinden. Er hätte die angenehme Eigenschaft, im geeigneten Augenblick, bevor alles noch schlimmer wird, die Gegenwart einzufrieren. Lieber jetzt als erst übermorgen. Auch eine Rückwirkungstaste wäre begrüßenswert.

Ist es reaktionär, sich nach der Vergangenheit zu sehnen?

Man könnte dann vielleicht etwa den Moment für immer festhalten, in dem Briefe selbstverständlich am Tag, nachdem man sie zur Post gebracht hatte, ihren Empfänger erreichten; den Moment, in dem man noch in einen Schokoriegel beißen konnte, ohne dass einem wegen eines Zuckeranteils von 220 Prozent das Gebiss ausfiel; den Moment, in dem Leipzig noch so ein richtig schöner Geheimtipp war, damals, als man sich dort für'n Appel und 'n Ei in einen riesigen Palast einmieten konnte, während man dort heute für 'n Appel und 'n Ei allenfalls noch'n Apfel bekommt; kurz: den Moment, in dem man noch keine Mechatroniker-Ausbildung brauchte, um die Handbremse im Auto zu bedienen.

Ist es denn reaktionär, sich so nach der Vergangenheit zu sehnen? Aber überhaupt nicht: Vielleicht erwischte man ja beim Freezen mit etwas Glück sogar die eine historische Millisekunde, in der nicht eine beträchtliche Zahl von Deutschen es für eine gute Idee hielt, eine Partei der Menschenverachtung für wählbar zu halten.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 16.06.2023 | 11:20 Uhr

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