NachGedacht: Das bittere Volkszornbrot
Alexander Solloch hat diese Woche einen Satz gehört, der gar nicht so gemeint war - und darum sehr viel Wahrheit barg. Eine Kolumne über die Kunst des sich Versprechens und die Poesie des falsch Verstehens.
"R" und "f" haben die Lehrkräfte uns früher in die Arbeitshefte hineingeschrieben, aber aktive Teilnahme am Leben hat uns seitdem gezeigt, dass die Einteilung der Gedanken und Begriffe in "richtig" und "falsch" gar keinen praktischen Nutzen aufweist. Oft liegt im angeblich "Falschen" eine tiefe innere Wahrheit, vielleicht gar eine besondere poetische Kraft. Verhörer, Verschreiber und Versprecher fahren, wenn sie gelungen sind, wie funkelnde Zaubersprüche durch unseren Alltag.
Das Gute an ihnen ist, dass man sie sich nicht ausdenken kann. Sie passieren einfach: etwa dem Protagonisten in Wilhelm Genazinos Roman "Mittelmäßiges Heimweh", der beim Einkaufen statt "Vollkornbrot" versehentlich "Volkszornbrot" liest. Beim Kauf der "Bild"-Zeitung gibt’s für uns alle eine Gratis-Scheibe dazu, und je länger man drauf kaut, desto bitterer wird es. Lebenserfahrung und ein individueller Blick auf die Welt produzieren solche vermeintlichen Fehlleistungen: "Niemand hört, als was er weiß, niemand vernimmt, als was er empfinden, imaginieren und denken kann", schrieb Goethe über Handwerk und Kunst des Verhörens. Dieses ist also eine Abwehrreaktion auf die sogenannte Wirklichkeit, die einem ja tatsächlich nicht selten undenkbar erscheint.
Nach Hundebiss Angst vor Politikern
Ein wunderbarer Qualitäts-Versprecher gelang diese Woche dem Deutschlandfunk-Kollegen Stephan Detjen. Er berichtete im live-Gespräch über die gerade erschienenen Memoiren der Alt-Kanzlerin und referierte die Szene, wie Putin 2007 bei einem Treffen mit Merkel seinen riesigen Labrador um sie herumstromern ließ, wissend, so nun Detjen wörtlich, "dass Angela Merkel, nachdem sie als junge Frau mal von einem Hund gebissen wurde, Angst vor Politikern hat." Ich dachte, ich hab‘ mich verhört, aber nein, er hat es wirklich gesagt: Angela Merkel hat Angst vor Politikern!
Und wie denn auch nicht? Oh, es gibt im Bundestag viele Politikerinnen und Politiker, die uns Hoffnung und Zuversicht einflößen könnten. Sie haben großes Fachwissen, viel Mut und durchaus auch Ausstrahlung - nur leider viel zu wenige Einfluss: die Linke Clara Bünger etwa, die unermüdlich und kenntnisreich für die Rechte von Geflüchteten und anderen Außenseitern der Gesellschaft eintritt, der Sozialdemokrat Robin Mesarosch, der mit Witz und Leidenschaft eine Vision von sozialer Gerechtigkeit entfalten kann, der Christdemokrat Marco Wanderwitz, der seit Jahren mit bewundernswerter Courage gegen den organisierten Rechtsextremismus kämpft, aber kürzlich die tieftraurige Ankündigung gemacht hat, nicht wieder für den Bundestag zu kandidieren, um sich und seine Familie "körperlich und seelisch" vor Anfeindungen zu schützen. Von seinem Fraktionschef Merz hörte man kein Wort des Bedauerns.
Volkszornbrot kauende Wähler prämieren Gemeinheit
Und da wären wir also bei den Politikern, die einem Angst machen: die, die es immer auf die Seite 1 schaffen, in den Aufmacher der Nachrichten; sie haben keine Ideen, aber sie haben Sprüche, Taktik und Macht. Sie wollen es sich nicht erlauben, fürs Gute zu kämpfen, weil sie glauben, dass die Volkszornbrot kauende Wählerschaft eher die Gemeinheit prämiert. Für welche Leistung der vergangenen Jahrzehnte sollte man Friedrich Merz eigentlich den Einzug ins Kanzleramt wünschen? Aufgrund welcher kraftvollen Tat kann Olaf Scholz glauben, eine Wiederwahl verdient zu haben? Was verleitet Christian Lindner zum Glauben, irgendein leibhaftiger Mensch begehre in Anbetracht seines bisherigen Wirkens sein neuerliches Auftauchen im Finanzministerium?
Unterdessen die Guten auf den Hinterbänken: Sie resignieren oder warten auf eine bessere Zeit. Welch ein Fleiß, welch großer Fleiß - und wenn Sie meinen, ich hätte gerade "Fleiß" geschrieben, dann haben Sie sich, weil Sie so poetisch sind, eindeutig verlesen!
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.