Menschen feiern den Sieg von Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Präsidentschaftswahlen © Imago
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Menschen feiern den Sieg von Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Präsidentschaftswahlen © Imago
AUDIO: Kommentar: Präsidentschaftswahl in der Türkei (5 Min)

Türkei-Wahl: "Erdoğan hat den Islam für seine Zwecke politisiert"

Stand: 02.06.2023 06:00 Uhr

In vielen deutschen Städten feierten am Sonntag Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan lautstark dessen Sieg bei der Stichwahl. Viele, die auf einen Regierungswechsel in der Türkei gehofft hatten, sind enttäuscht. Ein Gastkommentar von Canan Topçu.

von Canan Topçu

War es Naivität, welche die Hoffnung auf einen Politikwechsel in der Türkei keimen ließ? War es die Zuversicht, dass das offensichtliche Versagen der AKP-Regierung nach dem verheerenden Erdbeben vor rund vier Monaten auch glühenden Erdoğan-Anhängern die Augen geöffnet hat?

Empörung über die türkischen Wähler in Deutschland

Die, die einen Demokraten von einem Autokraten unterscheiden können, haben sich wieder einmal geirrt. Mehr als 52 Prozent der Wähler in der Türkei und rund 70 Prozent der in Deutschland zur Wahl gegangenen Wahlberechtigten haben für Erdoğan gestimmt.

Das Abstimmungsergebnis der türkischen Wähler in Deutschland empört viele. Auch mich! Nicht zu entschuldigen, dass Menschen, die hierzulande von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit profitieren, einen Autokraten anhimmeln und die Politik eines Landes mitbestimmen wollen, in dem sie - wenn überhaupt - einmal im Jahr Urlaub machen. "Darüber wird noch zu reden sein", twitterte noch am Wahlabend der türkischstämmige Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir.

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"Erdoğan ist kein echter Sieger"

Ja, Erdoğan hat am vergangenen Sonntag gewonnen. Ein echter Sieger ist er trotzdem nicht. Denn es war kein fairer Wahlkampf. Erdoğan hat nicht nur die öffentliche Infrastruktur und die staatlichen Medien für seinen Wahlkampf genutzt. 48 Stunden Redezeit Erdoğans standen 38 Minuten seines Herausforderers Kılıçdaroğlu entgegen. Mit seiner Rhetorik hat Erdoğan die religiös-konservativen Wähler an sich gebunden. Und er hat über Soziale Medien viele Lügen in Umlauf bringen lassen - wie etwa die, dass Kemal Kılıçdaroğlu im Falle des Wahlsiegs den Muezzinruf abschaffen und ein Kopftuchverbot einführen werde. Unbedarfte, fromme Wähler ließen sich von dieser Propaganda einlullen. Damit hat Erdoğan den Islam für seine Zwecke missbraucht.

Canan Topcu in der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" © picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB Foto: Karlheinz Schindler
Canan Topçu ist nach dem Sieg von Recep Tayyip Erdoğan niedergeschlagen.

Mich macht es fassungslos, dass ein sich gläubig gebender, aber jegliche religiösen Gebote und islamische Ethik ignorierender Politiker es schafft, fromme Muslime an sich zu binden und die Bevölkerung zu spalten. Es ist nämlich das Lagerdenken, das das Wahlverhalten der Menschen bestimmt, und es gibt in meinem Herkunftsland mehrere "Frontlinien": Muslime, die Ungläubige verachten, Islamo-Faschisten, die Kemalisten hassen, Nationalisten, für die Kurden nichts anderes als Terroristen sind, Sunniten, die eine Abneigung gegen Aleviten haben. Letztere Gruppe hat schon aus Prinzip nicht für Kemal Kılıçdaroğlu gestimmt; denn der Kandidat der Opposition ist Alevit.

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Triumph des türkischen Nationalismus

Statt versöhnliche Töne anzuschlagen, beschimpfte der Staatspräsident in seiner ersten Rede nach der Wiederwahl die Opposition. Sie unterstütze Terroristen und Homosexuelle und wolle die Werte und Normen der türkischen Gesellschaft aushöhlen. All die Menschen, die sich so sehr Erdoğans Abwahl gewünscht hatten, sind nun hoffnungslos. Auch ich bin niedergeschlagen. Ich denke an meine Verwandten, Freunde und Bekannten in der Türkei, ich denke an all die Menschen, die ohne Angst vor Repressalien in einem Rechtsstaat leben wollen, an all die, die sich nach ökonomischer Sicherheit sehnen und keine Zukunft in ihrer Heimat sehen. Viele denken ans Weggehen. Wem es möglich ist, wird das Land tatsächlich verlassen - wie auch schon nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste vor zehn Jahren. So viel steht fest: Gewonnen hat am vergangenen Sonntag der türkische Nationalismus - und ein Staatspräsident, der den Islam für seine Zwecke politisiert hat.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Rückblick geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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