Ein Rückblick auf 2022 aus muslimischer Perspektive
Das Jahr 2022 war geprägt von Krisen und Kriegen. Neben den weltpolitischen Ereignissen bewegt Canan Topçu auch der Umgang mit Muslim*innen und ihren Traditionen in Deutschland. Ein persönlicher Jahresrückblick.
Im zu Ende gehenden Jahr gibt es kaum ein gesellschaftliches oder politisches Ereignis, das ich auf Anhieb als ein erfreuliches bezeichnen kann. 2022 verbinde ich - wie sicherlich auch viele andere - vor allem mit Corona, Kriegen und Krisen. Und damit einhergehend mit sehr viel Leid für Menschen in nah und fern. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der Völkermord an der muslimischen Minderheit der Uiguren in China, die Burkapflicht für Frauen in Afghanistan, die Gewalt des islamistischen Regimes im Iran gegen Frauen und Männer, die für Selbst-bestimmung demonstrieren: Der Glaube an das Gute wird durch die brutale Realität tagtäglich erschüttert.
Einschneidendes Ereignis: der Tod des Vaters
Persönlich werde ich 2022 mit guten und weniger guten Ereignissen in Erinnerung behalten. Dass ich mich von meinem Vater verabschieden und seine Hand halten konnte, als er starb, das empfinde ich als ein großes Geschenk. Leider nicht seine Beisetzung auf dem muslimischen Grabfeld des städtischen Friedhofs in Hannover. Dass eine Friedhofsverwaltung es immer noch nicht hinbekommt, sich auf die Bedürfnisse der muslimischen Bürger einzustellen und zeitnahe Termine für Bestattungen zu vergeben, das macht mich traurig und auch ärgerlich. Denn die rasche Beerdigung der Verstorbenen ist ein religiöses Gebot im Islam.
Die Beisetzung meines Vaters verlief leider nicht so, wie sie hätte sein sollen. Eine Aneinanderreihung von Fehlern und Verfehlungen seitens der Verwaltung, des friedhöflichen Betriebshofs und des Bestattungsunternehmens hatte zur Folge, dass an falscher Stelle ein Grab ausgehoben worden war. In Ermangelung einer Bahre wurde der Sarg auf einer Sitzbank abgestellt und die Trauergemeinde wartete über eine Stunde, bis vor ihren Augen am richtigen Platz das Grab ausgehoben war. Gekommen waren zur Beisetzung viele alte Menschen, Weggefährten meines Vaters, sie blieben trotz der Kälte und Nässe, um ihm in einem gemeinsamen Totengebet am Grab die letzte Ehre zu erweisen.
Wichtige Funktion der Moscheegemeinden
Warum ich hier über ein so persönliches Ereignis, den Tod und die Bestattung meines Vaters, spreche? Für mich ist auch das Private politisch! Beim Rekapitulieren der Tage und Wochen nach dem Tod meines Vaters ist mir nämlich einmal mehr klar geworden, welche enorm wichtige Funktion Moscheegemeinden in unserem Land erfüllen und wie sehr sie Menschen in schwierigen Lebens-situationen - wie eben beim Verlust von Angehörigen - zur Seite stehen. Wenn in Medien über Moscheegemeinden berichtet wird, geht es aber selten um die Kraft, die von einer Glaubensgemeinschaft ausgeht, geht es wenig um Spiritualität und die der Seele wohltuenden religiösen Rituale. Ist von Moscheegemeinden die Rede, dann viel zu oft in Zusammenhang mit Islamismus und Extremismus, es geht dann um den politischen Islam und den Einfluss ausländischer Regierungen auf Muslime hierzulande.
Imam und Gemeindemitglieder als wertvolle Stützen
Ohne den Imam der Moschee, in die mein Vater regelmäßig zum Beten gegangen war, und ohne all die Menschen, mit denen er sich dort ausgetauscht hatte, wären meine Schwestern und ich aufgeschmissen gewesen. Wir, die zwar gläubig sind, aber unseren Glauben für uns privat leben, haben dank des Imams und aller Gemeindemitglieder erleben dürfen, wie wichtig eine Glaubensgemeinschaft ist und wie sehr religiöse Rituale, in der Gemeinschaft praktiziert, einem über schwierige Momente des Lebens hinweghelfen.
Ich möchte zuversichtlich bleiben und wünsche mir für 2023, dass Menschen in der öffentlichen Verwaltung mehr Sensibilität für Muslime entwickeln! Denn wir sind längst Teil dieser Gesellschaft und wollen nicht mehr stiefmütterlich behandelt werden! Und Muslimen in diesem Land wünsche ich, dass sie in ihrem Glauben und in der Gemeinschaft Halt und Kraft finden, ohne das Heil im Extremismus zu suchen.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Rückblick geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.