Eine Schülerin meldet sich © imago
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AUDIO: Gaza-Krieg: Jüdisch-muslimisches Schulprojekt bietet Geprächsplattform (5 Min)

Gaza-Krieg: Jüdisch-muslimisches Schulprojekt bietet Geprächsplattform

Stand: 16.08.2024 11:52 Uhr

"Vorfahrt für Vielfalt - Israel und Palästina" - das ist der Titel eines Schulprojektes in Braunschweig. Die Initiatoren gehen in Schulen und sprechen mit den Schüler*innen über ihre Ansichten und Gefühle zum Nahost-Konflikt.

von Hans Stallmach

Der Krieg im Gaza-Streifen hinterlässt auch an den Schulen in Deutschland tiefe Spuren - nicht zuletzt deshalb, weil viele Schülerinnen und Schüler selbst familiäre Wurzeln in Nahost haben. Die Emotionen gehen bisweilen hoch in den Klassenzimmern, und Lehrkräfte sind mit dem komplexen und emotionsgeladenen Thema oft überfordert. Die Braunschweiger Initiative will hierbei Hilfe anbieten; das interreligiöse Team geht selber in die Schulen. Wie vergiftet die Atmosphäre derzeit ist, haben die Initiatoren aber auch am eigenen Leib erlebt - Anfeindungen und persönliche Drohungen inbegriffen.

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Die israelische Flagge und die palästinensische Flagge stehen auf einem Tisch, im Hintergrund ist Feuer zu sehen. © imago

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"So unterschiedlich sind wir gar nicht"

"Ich glaube, wir müssen einen Auftakt schaffen, und das tun wir, wenn wir in diesem Projekt wirklich mit allen Weltreligionen an die Schulen gehen und den Leuten aufzeigen: So unterschiedlich, wie wir immer dargestellt werden, sind wir gar nicht. Wir reden viel zu oft darüber, was uns trennt, und nicht, was uns vereint", sagt Atakan Koçtürk, Muslim, 23 Jahre alt, bis zum Ende des vergangenen Schuljahres Sprecher des Stadtschülerrates Braunschweig.

Das Team des Braunschweiger Schulprojektes © Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers Friedensarbeit
Von links: Dimitri Tukuser, Klaus J. Burckhardt und Atakan Koçtürk

"Unsere Aufgabe ist es, Denkprozesse anzustoßen, um zu sagen: Es gibt nicht nur diese Wahrheit. Du musst denken, du bist ein Mensch! Und du bist verantwortlich für deine Gedanken", appelliert Dimitri Tukuser, 68 Jahre alt, von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Wolfsburg-Braunschweig. Gemeinsam mit Atakan Koçtürk ist er Teil eines interreligiösen Teams, zu dem auch Vertreter der evangelischen Kirche und der Schulbehörde gehören. Bislang haben sie acht Schulen in der Region Braunschweig besucht. Beim Thema "Israelisch-Palästinensischer Konflikt" sind viele Schülerinnen und Schüler hochemotionalisiert. Für sie wird erst einmal ein "braver space" geschaffen, ein "ermutigender Bereich": Sie haben dort die Möglichkeit, vor allen über ihre Gefühle zu sprechen - ohne unterbrochen zu werden, und ohne sich rechtfertigen zu müssen.

"Es reicht manchmal einfach zu fragen, wenn ich weiß, dass eine Person aus diesem Gebiet kommt: 'Wie geht es dir damit?'", sagt Atakan Koçtürk. "Mir sind unfassbar viele Menschen bekannt, die ihre eigenen Familienmitglieder gerade nicht beerdigen konnten - und das muss ein schreckliches Gefühl sein, wenn ich meinen eigenen Vater nicht beerdigen kann."

Emotionale Diskussionen: "Da entsteht etwas!"

Neben dem eigenen Erzählen sollen die jungen Menschen aber auch lernen, zuzuhören. Es gilt zu akzeptieren, dass es ganz andere persönliche Erfahrungen gibt als die eigenen. Was sich anschließt, ist eine gemeinsame Reflexionsphase sowie - für das Team besonders wichtig - ein schriftliches Feedback. "Dadurch entstehen neue Fragen, und das ist ein Erfolg", findet Dimitri Tukuser. "Unsere Aufgabe ist ein Anstoß und ein Denkprozess. Und wir sehen in diesen Antworten: Da entsteht etwas!"

Bei den bisherigen Schulbesuchen habe es viele emotionale Diskussionen gegeben, sagt Atakan Koçtürk; eskaliert sei die Situation aber nie: "Es gab im Voraus auch Gespräche, wo Schülerinnen und Schüler stigmatisiert wurden, wo es hieß: Da müsst ihr besonders aufpassen; das ist jemand, der kommt aus der Gegend. Das waren teilweise Menschen, mit denen wir die besten Diskussionen hatten!"

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Soziale Medien können zu Radikalisierung und Polarisierung beitragen

Für viele ist es das erste Mal, dass sie beim Thema Nahost überhaupt mit einer anderen Perspektive als der eigenen konfrontiert werden. Atakan Koçtürk macht dafür vor allem die Einseitigkeit in den sozialen Netzwerken verantwortlich. Eine besonders unheilvolle Rolle spiele dabei die Plattform TikTok - eine Einschätzung, die auch von wissenschaftlicher Seite geteilt wird, etwa von der Soziologin Isabell Diekmann von der TU Dortmund: "Die Forschung zu TikTok, seinen Algorithmen und extremen Inhalten deutet darauf hin, dass diese Algorithmen zu Radikalisierung und Polarisierung beitragen können. TikTok ist mit Blick auf Jugendliche sowieso ein besonderes Medium, weil junge Menschen hier die primäre Zielgruppe bilden. Gleichzeitig sind jüngere Menschen eine Zielgruppe, die ihre Medienkompetenz erst noch ausbilden müssen."

Atakan Koçtürk findet Rückhalt im Glauben

Bei allen Erfolgen erleben die Mitglieder des Braunschweiger Schulprojekts aber auch immer wieder, wie vergiftet die Atmosphäre derzeit ist. Atakan Koçtürk hat zahlreiche Anfeindungen erlebt, sogar eine Morddrohung. Keine einfache Situation für den jungen Moslem. Rückhalt findet er auch im Glauben: "Ich sage immer: Ich glaube, dass Gott andere Probleme hat, als uns, die Gutes produzieren, im Stich zu lassen. Das ist auch der Hype, den ich mir da schöpfe, indem ich denke: Der liebe Gott ist an unserer Seite und schützt uns, denn am Ende des Tages tun wir gute Sachen - zumindest glaube ich daran (lacht)."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 16.08.2024 | 15:20 Uhr

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