Sachbuchpreis 2010 geht an Kesslers Tagebücher
Lobreden auf einen ebenso rastlosen wie geistvollen Tagebuchschreiber, ein charmanter ECHO Klassik-Preisträger an der Bratsche und kritische Gedanken zum Sachbuch-Bestseller und Aufreger des Jahres - bei der Verleihung des NDR Kultur Sachbuchpreises in der Aula der Universität Göttingen bekamen die Zuhörer am Sonntag, egal ob im Saal oder bei der live-Übertragung auf NDR Kultur, ein spannendes aber auch unterhaltsames Angebot.
Denis Scheck und das Augenzwinkern
Gastredner Oskar Negt, der 76-jährige Doyen der Sozialphilosophie, plädierte dafür, die polarisierende Streitschrift Thilo Sarrazins nicht als "Sachbuch" zu bezeichnen, sondern für Werke wie dieses die Kategorie "Vorurteilsbuch" einzuführen. Der Literaturkritiker und Sachbuch-Juror Denis Scheck wies augenzwinkernd darauf hin, wie unsachlich es sei, gute Sachbücher allein aufgrund einer Bestsellerliste auszuwählen: "Stellen Sie sich vor, Sie müssten die zehn meistverkauften Gerichte Deutschlands essen – glauben Sie wirklich, Sie würden dann auch die zehn wohlschmeckendsten Gerichte verzehren?"
Ein weiteres Buch ist Gesprächsthema
Und Niedersachsens Wissenschafts- und Kulturministerin Johanna Wanka erklärte, Sarrazins Buch gar nicht erst lesen zu wollen. Allerdings müsse man sich fragen, so Wanka, wieso es einen solchen Erfolg auf dem Buchmarkt habe. Deshalb sollte man Sarrazins Thesen nicht vorschnell verurteilen und tabuisieren, sondern überlegen, was in der Politik womöglich zu wenig diskutiert werde. Das traf auch Joachim Knuths Zustimmung. Der NDR-Programmdirektor Hörfunk und Jury-Vorsitzender riet zu Gelassenheit in der aktuellen Diskussion: "Ich glaube, man sollte mit Argumenten fechten, nicht mit dem Aussprechen von Verboten."
Kraft guter Argumente
Welche Kraft gute Argumente, scharfsinnige Gedanken und Überlegungen haben können, beweisen nach Ansicht der Jury die drei Preisträger des NDR Kultur Sachbuchpreises jeder auf seinem Gebiet. Allen voran Harry Graf Kessler, der 1937 in Lyon verstorbene Literat und Kunstfreund, Publizist und Mäzen, Diplomat und Weltbürger. Seine "Tagebücher" über die Jahre 1880 bis 1937 bieten dem Leser "ein Kaleidoskop der europäischen Zeit und Kulturgeschichte", so Laudator Wilhelm Krull, Jurymitglied und Generalsekretär der Volkswagen Stiftung.
Höchste Anerkennung gebühre den Herausgebern dieser Tagebücher für ihre editorische Leistung; stellvertretend für ein ganzes Herausgeber-Team nahmen Ulrich Ott und Roland Steven Kamzelak freudestrahlend den mit 10.000 Euro dotierten Ersten Preis entgegen. Der Schauspieler Rolf Becker las teils überraschend aktuell wirkende Passagen aus dem Tagebuch.
Weitere Preisträger
Mit jeweils 2.000 Euro und zwei 2. Preisen wurden der Historiker John Darwin für sein Werk "Der imperiale Traum - Die Globalgeschichte großer Reiche 1400 – 2000" sowie der Literaturwissenschaftler Peter André Alt für seine Studie "Ästhetik des Bösen" ausgezeichnet.
Die Ästhetik des schönen Klangs führte der Bratschist und zweifache ECHO Klassik-Preisträger Nils Mönkemeyer elegant vor; mit einem schmissigen Tango wie auch einer romantischen Brahms-Sonate. Ja, er werde noch am selben Abend in Essen seinen ECHO Klassik-Preis entgegennehmen, erklärte der verschmitzte Star, aber Sachbücher interessierten ihn natürlich mehr als Echos. Und schmunzelnd fügte er noch hinzu, seine nun in Essen ausgezeichnete CD "Ohne Worte" zeige mit auf der Bratsche gespielten Liedern, dass ohne Worte der Inhalt reicher werde – "doch das gilt natürlich nicht für diese Veranstaltung!" Der NDR Kultur Sachbuchpreis soll auch 2011 in Göttingen verliehen werden.
Harry Clemens Ulrich Kessler: Literat, Kunstsammler, Politiker
Harry Clemens Ulrich Kessler (ab 1881 Graf von Kessler) wurde 1868 in Paris geboren und starb 1937 in Lyon. Der deutsche Literat, Publizist und Essayist wuchs in Frankreich, England und Deutschland auf, arbeitete als Diplomat im Ausland und unternahm zahlreiche Reisen. Der Pazifist betätigte sich auch als Kunstsammler und Mäzen und fühlte sich als "Angehöriger einer europäischen Gesellschaft". Kesslers literarischer Nachlass ist sein Tagebuch, das er 57 Jahre lang führte und das nun in neun Bänden veröffentlicht wurde.