"Zwischen Göttingen und Tsingtau": Ein koloniales Erbe
Was hat Göttingen mit der chinesischen Metropole Qingdao zu tun? Das fragt aktuell eine Ausstellung im Stadtmuseum in Göttingen. Es geht um die koloniale Vergangenheit Deutschlands in China.
Dass es in China von 1897 bis 1914 eine Kolonie gab, das wissen hierzulande vermutlich die Wenigsten: Kiautschou mit der wichtigen Hafenstadt Tsingtau - heute Qingdao. Die Ausstellung in Göttingen nimmt diese dunkle Vergangenheit in den Blick. Das Besondere: Alle Objekte stammen aus einem einzigen Nachlass einer Göttinger Familie.
Die Exponate: Nachlass eines Richters
Es sind ausgewählte Exponate, die in der Ausstellung zu sehen sind: handgeschriebene Briefe, Fotografien, kleine Münzen, Fächer, Seidendeckchen und Tuschezeichnungen. Alles verschickt nach Göttingen - aus der deutschen Kolonie Kiautschou in China. Der Absender und Sammler: Ewald Lehmann. Er habe zehn Jahre als Richter in der Kolonie gearbeitet, sagt Iris Olszok vom Stadtmuseum Göttingen. "Der Kern der Ausstellung ist eben dieser Nachlass, der uns übergeben wurde von einer Göttinger Familie", erzählt Olszok. "Wir haben die Briefe, wir haben die Fotos, wir haben die Objekte - das heißt, es ist ein sehr geschlossener Nachlass, der mir eine gute Sicht auf das Leben von diesem deutschen Richter in Tsingtau gibt."
Richter Ewald Lehmann: Ein skrupelloser Mann
Das Leben der Chinesen in der deutschen Kolonie ist geprägt von Gewalt und Willkür. Ewald Lehmann als Richter hat seinen Teil daran. In einem Brief an seine Eltern schreibt er:
Für Sachen, für die man in Deutschland ein paar Jahre Zuchthaus bekommen würde, wird hier ohne zu Zucken der Kopf abgeschlagen. Auszug aus einem Brief
Lehmann werde Todesurteile verhängen und er werde seine Freude daran haben, sagt Olszok: "Damit es den Deutschen nicht als Schwäche ausgelegt wird in China. Und weil es das 'Gesindel' vor Ort sonst nicht versteht."
Immer wieder lehnt sich die einheimische Bevölkerung gegen die Deutschen auf, erzählt Karolin Wetjen. Sie ist Historikerin an der Universität Göttingen: "Auch da spielt die Alltäglichkeit kolonialer Gewalt eine große Rolle, die sich auch immer wieder in Aufständen niederschlägt, in diesem wachsenden Unmut über den westlichen Einfluss in der chinesischen Gesellschaft."
Verbindungen von China nach Göttingen
Die Kabinettausstellung "Zwischen Göttingen und Tsingtau" ist eine historische Reise zwischen zwei Ländern und zwei Kontinenten. Tsingtau wird damals zur wichtigen Hafenstadt der deutschen Besatzer. Von hier schickt Ewald Lehmann die Objekte nach Göttingen an seinen Vater. Er ist im 19. Jahrhundert angesehener Bürger der Stadt. Zudem sei er glühender Anhänger der deutschen Kolonialpolitik gewesen, weiß Iris Olszok: "Kolonialismus um 1900 war ein sehr großes Thema in der Bevölkerung. Das sieht man auch sehr gut an Ernst Lehmann, dem Vater, der selbst nie außerhalb von Europa war, aber ein sehr kolonialbegeisterter Mensch. Er hat hier Sachen gesammelt, war im Kolonialverein. Unsere Ausstellung und der Nachlass zeigen diese Verbindung sehr gut."
Die Kolonie als Aufstiegschance für Europäer
Wie das Leben der Deutschen in der Kolonie aussah, zeigen rund 550 Schwarz-weiß-Fotografien aus dem Nachlass, aufgenommen von Ewald Lehmann und seiner Frau. Sie würden darauf ihr Leben inszenieren, findet Olszok: "Die Fotos zeigen dieses als sehr idyllisch dargestellte Kolonialleben der Kolonialherren." Diese hätten sich da ein schönes Leben gemacht, so Olszok. "Das war ja für viele auch wirklich ein Aufstieg, in eine Kolonie zu gehen. Die hatten da einen Lebensstil mit großen Häusern, Pferden und Dienern. Den hätten sie in Europa nicht gehabt, und das zeigen sie eben."
Einige Fotos sind in der Ausstellung zu sehen. Auffällig ist: Sie zeigen offenbar nur das, was die Deutschen sehen wollten. Das Leben der Einheimischen interessiert sie weniger. Sie begegnen sich kaum im Alltag. Das sei Absicht, sagt Karolin Wetjen. "Es geht eben ganz stark, und das kann man heute noch an den Stadtstrukturen sehen, um eine Segregation. Es werden extra Europäer-Viertel errichtet und die chinesische Bevölkerung davon stark segregiert."
Viel Geld für Kolonie, um Modernität zu demonstrieren
Die Deutschen wollen in China eine Musterkolonie errichten. Dabei spielt das Thema Stadtplanung eine große Rolle. Kiautschou werde die teuerste Kolonie, die Deutschland je hatte, erklärt Wetjen: "Weil so viel Investitionen in Infrastruktur geflossen sind, in den Hafen, in die Eisenbahn, in Krankenhäusern, in eine moderne Kanalisation, um diesen Gedanken in die Welt zu tragen, wie modern das Kaiserreich ist."
Auch andere Familien melden sich mit Kolonial-Objekten
Die Ausstellung in Göttingen läuft bereits seit einigen Wochen. Und sie schlägt Wellen in der Stadt. Immer mehr Göttinger melden sich beim Stadtmuseum. Auch sie haben Objekte aus China im Familienbesitz, sagt Iris Olszok. "Es zeigt sich, dass das auch bis heute in ganz vielen Familien noch präsent ist. In vielen Familien stehen Objekte und wenn man sich die genauer anguckt, merkt man: Da waren die Vorfahren auch als Kolonialisten in China und haben das mitgebracht."
Für das Stadtmuseum ist die Ausstellung also nur ein Anfang. Aber ihr Ziel hat sie jetzt schon erreicht: eine Auseinandersetzung mit der Deutschen Kolonialvergangenheit anstoßen, über den lokalen Bezug zur eigenen Stadt. Noch bis zum 9. Juni sind die Exponate zu sehen.