Kunst oder Kind: Wenn Vereinbarkeit eine ständige Zerreißprobe ist
Kinder, Karriere und Haushalt unter einen Hut bringen: Diese Zerreißprobe kennen alle Eltern. Für Künstlerkarrieren gelten Kinder mitunter noch als echtes Hindernis. Kind und Kunst - geht das überhaupt? Eine Künstlerin aus Kühlungsborn probiert es trotzdem.
Wenn sie Aufträge erhält oder sich auf Stipendien bewirbt, werde sie oft gefragt, wie sie Kunst und Kinder unter einen Hut bekomme, sagt Christin Waterstrat. Sie ist bildende Künstlerin - und alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Ihre männlichen Kollegen würden solche Fragen nicht hören. "Alles können", das sei die Erwartungshaltung an sie als Künstlerin und Mutter, sagt Waterstrat. "Das ist natürlich überhaupt nicht umsetzbar und vereinbar und ich stoße da auch ständig an meine Grenzen. Aber ich bin mutig und lebe das halt, weil ich unbedingt Künstlerin sein möchte."
Die Schattenseiten des Berufes
Derzeit arbeitet sie an einer Serie von Illustrationen auf Glas, zart graviert von beiden Seiten. Das Kunstwerk entsteht für den Betrachter im Schattenwurf an der Wand. Um Kunst wie diese, die ihr am Herzen liegt, zu finanzieren, nimmt sie Aufträge an, nimmt an Wettbewerben teil, gibt Workshops und bewirbt sich auf Stipendien - auch auf solche, die im Kolleginnenkreis als "familienunfreundlich" gelten. "Wenn es dann nicht möglich ist, dann sieht man genau daran, dass die Rahmenbedingungen eigentlich abgeändert werden müssten. Das darf kein Ausschlusskriterium sein." Viele Kunstschaffende mit Kindern würden sich erst gar nicht bewerben.
"Glücksfall" Pandemiebedingungen
Mitten in der Pandemie erhielt Waterstrat ein Aufenthaltsstipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern - drei Monate leben und arbeiten in einer Atelierwohnung in Rostock. Die Zuwendung ist an eine Präsenzpflicht geknüpft. Ihre Tochter Rosa, die kleinste, war zu diesem Zeitpunkt anderthalb, der Sohn in der Grundschule, die große Tochter auf dem Gymnasium. Ausgelegt war die Atelierwohnung des Schleswig-Holstein-Hauses Rostock damals für insgesamt zwei Stipendiaten: zwei Schlafzimmer, zwei Atelierräume - Küche und Bad werden geteilt. Waterstrats "Glücksfall" waren ausgerechnet die Pandemiebedingungen, die 2020 nur eine Künstlerin in den Räumen erlaubten. Kinder waren dort jedoch nicht vorgesehen. "Das bedeutet zwangsläufig, wenn du ein Kleinkind hast, dass du dann eben nur in diesen engen Zeitfenstern arbeiten kannst, in denen du nicht der Care-Arbeit nachkommst", erklärt Waterstrat. Dieser "Zerreißprobe" hielt sie nicht lange stand. Sie unterbrach ihren Aufenthalt und damit das Stipendium nach einem Monat. Care-Arbeit und Kunst, das passte zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht zusammen.
Mentoring-Programm unterstützt Nachwuchs-Künstlerinnen und Künstler
Annekatrin Siems ist Projektleiterin des Künstlerbundes MV und des Projekts Mentoring Kunst, das Nachwuchskünstler und -künstlerinnen mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zusammenbringt - auch im Interesse des Landes. Die Patenschaft soll beim Berufsstart und in Umbruchsphasen den Jüngeren helfen, sich in der Kunstwelt zu behaupten. Denn ob Mütter oder nicht: Netzwerken, Selbstvermarktung, Finanzierung, Fördermöglichkeiten, Verhandlungsgeschick - das alles müssen Künstlerinnen heute können. Für das Programm Mentoring Kunst bewerben sich auch Teilnehmerinnen, die bereits Kinder haben, alleinerziehende Mütter sind ebenfalls darunter. "Und das Programm ist auch daraufhin ausgelegt", erklärt Siems. "Wir schaffen die Rahmenbedingungen, dass sie gleichwertig am Programm teilnehmen können". Ein Knackpunkt seien zum Beispiel auch Altersgrenzen, denn mit 35 sei man als Mutter und Künstlerin mitunter auch noch Nachwuchskünstlerin, so Siems.
Wie attraktiv ist MV derzeit für Kunstschaffende?
Apropos Nachwuchs: "Wir sind im Moment darauf angewiesen, dass Künstlerinnen und Künstler wieder zurück ins Bundesland kommen", so Siems. Denn wer aus dem Nordosten komme und Kunst studieren möchte, der gehe nach Leipzig, Halle oder Berlin. "Wir wissen natürlich nicht, wann der künstlerische Nachwuchs sich entscheidet, wieder nach Mecklenburg-Vorpommern zu kommen." Und dafür müssten eben auch die Rahmenbedingungen stimmen.
Größter Kunstförderer im Nordosten ist das Land MV
Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist der größte Förderer für Kunstprojekte im Nordosten. Dass die Nachwuchsförderung, Stipendien und Preise des Landes angepasst werden sollen, insbesondere "mit Blick auf Gendergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf", steht seit 2020 in den Handlungsempfehlungen der sogenannten kulturpolitischen Leitlinien. Bei der Preisvergabe des Landes, so Kulturministerin Bettina Martin (SPD) auf Anfrage, seien bereits jetzt "sowohl fachliche Erwägungen als auch Fragen der Gendergerechtigkeit zu beachten."
Umdenken bei Stipendien auf kommunaler Ebene
Ein Jahr nachdem Christin Waterstrat ihren Stipendienaufenthalt in der Rostocker Atelierwohnung unterbrechen musste, war sie wieder dort. Die Kinder nahm sie einfach mit – so konnte sie die verbliebenen beiden Monate des Landesstipendiums in den Rostocker Atelierräumen beenden. Rosa, die Kleinste, hatte sie beim Arbeiten in der Trage auf dem Rücken, der mittlere Sohn ging vor und nach der Schule ein und aus. Im Kunstverein Rostock, zu dem die Atelieräume gehören, setzte zum Ende der Pandemie ein Umdenken ein. Zwei Künstler, die sich Küche und Bad teilen - das sei nicht mehr zeitgemäß, sagt Thomas Häntzschel vom Kunstverein Rostock. Das Stipendium der Stadt Rostock richtet sich seit Neuestem auch explizit an Künstlerinnen und Künstler mit Kindern. Damit ist der Kunstverein Rostock Vorreiter bei der Ausschreibung familiengerechter Stipendien.
Das Land hingegen ist noch nicht ganz so weit. Für 2024 plane das Kulturministerium unter Ministerin Martin einen "ersten Modellversuch" für familiengerechte Stipendien in Zusammenarbeit mit dem Schleswig-Holstein-Haus in Rostock. Da das Land keine eigenen Räumlichkeiten für Stipendiaten und Stipendiatinnen besitze, sei man auf Häuser mit entsprechenden familiengerechten Räumlichkeiten angewiesen, hieß es auf Anfrage.
Gender- und familiengerechte Förderung?
Neben Stipendien mit familienunfreundlichen Bedingungen oder Altersgrenzen sind auch Honorare ein Problem. Denn bislang existieren nur allgemeine Empfehlungen, beispielsweise für Ausstellungshonorare. "Immer wieder heißt es im Tenor: 'Der Künstler kann ja hier ausstellen, und dann kann er vielleicht sein Werk verkaufen'", so Annekatrin Siems. Doch das sei in einem Kunst- und Kulturbetrieb mit einer so geringen Galeriedichte und Käuferschicht wie in Mecklenburg zur Bestreitung des Lebensunterhaltes einfach nicht realistisch.
Gender Pay Gap in der Kunst teilweise bei 30 Prozent
Dazu kommt eine eklatante Lohnlücke: Der allgemeine Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen in Deutschland lag in diesem Jahr bei 18 Prozent. Bei Frauen, die in der Kunst- und Kulturbranche arbeiten, geht die Einkommensschere erheblich weiter auf. Das geht aus einer Auswertung der Gewerkschaft ver.di hervor, für die Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK) ausgewertet wurden.
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit?
Auch Kulturministerin Martin hatte sich am Equal Pay Day 2023 für mehr Lohntransparenz und -gleichheit ausgesprochen. "Beschämend" nannte sie die "20-Prozent-Lohnlücke in Kunst und Kultur" und forderte "dass Kulturförderung nur dort fließt, wo der Grundsatz 'gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit' eingehalten wird." Förderungen für Kultureinrichtungen und -institutionen seien in der Kulturförderrichtlinie an Mindesthonorare bzw. die Honoraruntergrenzen sowie an den den Grundsatz der Gendergerchtigkeit geknüpft, erklärte Martin auf Anfrage. Orientierung würden die Honorarempfehlungen der Bundesverbände bieten. Nötig sei aus Sicht Martins "mehr Gehaltstransparenz in Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft." Der laufende Doppelhaushalt 2022/23 habe 100.000 Euro zusätzliche Mittel jährlich für Künstler und Mitwirkungshonorare bereitgestellt.