"Equestrienne (At the Cirque Fernando)" aus dem Jahr 1888 von Henri de Toulouse-Lautrec. © picture alliance / Heritage-Images | The Print Collector/Heritage Images

Der Zirkus in der Kunst: Zwischen Freiheit und Voyeurismus

Stand: 09.06.2023 17:22 Uhr

Manege frei für Akrobaten, Clowns und Seiltänzerinnen. Paul Klee, Max Beckmann, Franz Marc oder Otto Dix - sie alle malten immer wieder Zirkusbilder. Was fasziniert Kunstschaffende an der Zirkuswelt?

von Anette Schneider

Abtauchen in eine eigene Welt, die in eine fremde, aufregende Parallelwelt entführt. In eine Welt, in der das "Gängige", das "Normale" nicht mehr interessiert, und die deshalb auch viele KünstlerInnen süchtig machte. Löwen springen durch brennende Reifen. Akrobatinnen balancieren in schwindelerregender Höhe über ein Seil. Dompteure lassen die Peitsche knallen. Musik lärmt. Künstler wie Paul Klee, Max Beckmann, Franz Marc oder Otto Dix malten Zirkusbilder. Kein Wunder, meint die Kunstwissenschaftlerin Juliane Au: "Da sind Farben. Da ist Licht. Da sind verschiedene Formen und ungewöhnliche Blickwinkel. Wenn man zum Beispiel an das Trapez denkt: Man sieht Menschen plötzlich von ganz weit unten ganz weit oben."

Der Zirkus wider die bürgerliche Welt

Blick auf Marc Chagalls "Cirque". © picture alliance / Photoshot
Marc Chagalls "Cirque": Ein wilder Rausch aus Farben und Formen.

Gleichzeitig waren die Künstler fasziniert von einem Ort, an dem die festgefügte, bürgerliche Welt aus den Fugen geriet und alle gesellschaftlichen Regeln gesprengt wurden. "Zum einen ist Zirkus etwas super Spannendes, aber eben auch Demokratisches", so Au. "Es ist eben nicht die Oper oder das Theater, wo man einen gewissen sozialen Status haben muss, um hingehen zu können, weil das ja sehr teuer ist. Da kann jeder hingehen."

So wie der Zirkus alle Regeln sprengte, sprengt Marc Chagall die Regeln der Malerei: In seinen Bildern verwandelt er Zelt und Manege in einen Farbstrudel aus Blau, Gelb, Grün und Rot - in eine Traumwelt, in der Musiker, Kunstreiterinnen, Clowns, Seiltänzerinnen, Publikum und Zirkusdirektor durcheinanderwirbeln. Oder Toulouse-Lautrec: Seine Kunstreiterinnen zeigen auf galoppierenden Pferden die waghalsigsten Kunststücke und zeigen dabei eigentlich Verbotenes - ihr nacktes Fleisch.

Die Kehrseite: Sensationsgier und Voyeurismus

Eine "Zirkusreiterin" von Ernst Ludwig Kirchner. © picture alliance / Heritage Images | Fine Art Images
Eine "Zirkusreiterin" von Ernst Ludwig Kirchner.

"Viele Zirkuskostüme sind kurz - müssen sie zum einen sein, weil man sich damit besser bewegen kann. Zum andern ist es aber natürlich sexualisierend, sehr spannend", erklärt die Kunsthistorikerin. "Man sieht da plötzlich Körperteile, Beine, Knöchel, die man sonst nicht sehen würde. Wenn Künstlerinnen am Trapez hängen, kann man ihnen im wahrsten Sinne unter den Rock gucken."

Die Kehrseite des entfesselten Spiels sind die Sensationsgier und der Voyeurismus des zahlenden Publikums. Die Lust am Exotismus wurde unter oft fragwürdigen Bedingungen befriedigt. Mittendrin sind die Künstler, die in Zirkusmanegen oder in sogenannten Völkerschauen schon mal Schwarze Frauen entdeckten, die sie zu ihren Modellen machten, so wie etwa Ernst Ludwig Kirchner.

Zirkusmotive als gängige Metaphern

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Balanceakt: "Der Seiltänzer" von Paul Klee

"Da werden Menschen ausgestellt - auch im negativeren Sinne vielleicht - die in die gesellschaftlich akzeptierte Vorstellungen von Normalität nicht hineinpassen", sagt Au. "Man hat Menschen, die nicht den physischen Normen entsprechen. Also: Menschen mit dunklerer Hautfarbe. Tätowierte. Menschen, die mit physischen oder geistigen Beeinträchtigungen leben." Diese Gier nach immer neuen Sensationen führt der zeitgenössische, französische Künstler Daniel Firman ebenso sensationell wie ironisch vor Augen: Seine über fünf Meter großen Elefantenskulpturen kleben nur mit ihrem Rüssel an der Wand - ihre wuchtigen Körper schweben frei im Raum.

Im Laufe der Zeit verwandelten Künstler*innen gleich mehrere Zirkusmotive in gängige Metaphern: Antoine Watteau erklärte schon vor 300 Jahren den melancholischen Clown zum Inbegriff des Künstlers als gesellschaftlichen Außenseiter. Bis heute hält sich auch das Motiv des Seiltänzers. Einen besonders anrührenden von Paul Klee zeigt Juliane Au gerade in ihrer Ausstellung zum Krisenjahr 1923 in der Hamburger Kunsthalle: Da sieht man auf kleinem Format einen Seiltänzer, der hoch oben am oberen Bildrand mit einer gewaltigen Stange über ein Seil balanciert. Unter ihm: ein nebliges Nichts. "Es ist natürlich auch ein Gleichnis: für den Drahtseilakt des Lebens - ein falscher Schritt und man stürzt in den Abgrund", sagt Au.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 09.06.2023 | 06:40 Uhr

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