Der große Gatsby: "Es war die reine Freude, das zu erleben"
Oliver Sturm produzierte das erste Hörspiel des amerikanischen Literaturklassikers "Der große Gatsby". Die Uraufführung fand Pfingsten 2023 statt. Im Interview verrät der Regisseur, was ihn am Stoff der Roaring Twenties in F. Scott Fitzgeralds Roman fesselt.
Er ist einer der größten Klassiker der amerikanischen Literatur, und in der Verfilmung mit Leonardo di Caprio als dem Liebeswahn verfallener Gatsby einem breiten Publikum bekannt. 2023 hat der NDR den legendären Roman aus den "Roaring Twenties" erstmals auch als Hörspiel produziert. Da kämpft jemand blind um eine vergangene Liebe, pimpt sein Ego auf durch protzigen Reichtum, wirft opulente, rauschende Tanz- und Event-Partys: Und das einzig, um eine Frau wiederzugewinnen, die mittlerweile schwerreich verheiratet ist und ihn vor Ewigkeiten verlassen hat. Damals wähnte er sich nicht vermögend genug. Jetzt ist er es. Aber kann man Liebe kaufen oder erwerben? Kann man vergangene und verlorene Zeit zurückholen? Es sind die 1920er-Jahre: Zeit der großen Umbrüche, der Dekadenz, der Ausschweifungen, es ist die Zeit des Jazz. All das inszeniert Oliver Sturm zu einem opulenten, farbigen und bewegenden Drama über einen Mann, der bei seinem trunkenen Liebeskampf auch andere mit ins Verderben zieht.
Herr Sturm, F. Scott Fitzgerald hat vor 100 Jahren eine Geschichte geschrieben, die Sie heute noch so sehr ergreift, dass Sie aktuell ein Hörspiel darüber entstehen lassen. Was berührt Sie an der Geschichte von Nick Carraway und Jay Gatsby?
Oliver Sturm: Zwei Aspekte des Romans berühren mich ganz persönlich. Zum einen ist es dieses Festhalten an einer Illusion vom eigenen Leben und davon nicht lassen können. Zum anderen ist es die Vorstellung von der Herstellbarkeit des persönlichen Lebensglücks, die Idee, das Leben auch gegen die eigene soziale Herkunft selbst zu modellieren und sich neu erfinden zu können. Letzteres macht das spezifisch Amerikanische des Stoffes aus. "Der große Gatsby" gilt ja als 'the great american novel', womit die Machbarkeit von sozialem Aufstieg und Lebensglück gemeint ist. "The pursuit of happiness" steht an vorderster Stelle der amerikanischen Verfassung. Die Figur des Multimillionärs Jay Gatsby ist eine Erfindung des Farmersohns James Gatz, der eines Tages beschließt, seine soziale Herkunft hinter sich zu lassen und als Mr. Gatsby ein neues Leben in Glanz und Reichtum zu beginnen - und daraus viel Unglück entstehen lässt.
Daisy Buchanan, das Mädchen aus besserem Hause, in die er sich vor dem 1. Weltkrieg verliebt, ist sozusagen sein Glücksversprechen: Oberschicht und so etwas wie der Eros des Aufstiegs. Als Gatsby nach dem Krieg zurückkehrt, will, nein, muss er diese Liebesgeschichte fortsetzen, obwohl Daisy inzwischen verheiratet ist. Es ist nicht nur die Liebe, die ihn treibt, sondern die Erfüllung eines Ideals vom besseren Leben, um den Preis, seine Seele zu verkaufen. F. Scott Fitzgerald verarbeitet hier eine persönliche biografische Erfahrung, zwei dicht aufeinander folgende Kränkungen: Seine erste große Liebe, Ginevra King, hat ihn zurückgewiesen, weil er nicht ihrem gesellschaftlichen Stand entsprach, und auch Zelda Sayre, seine spätere Frau, hat ihn zunächst hingehalten und abgewartet, wie erfolgreich der Verkauf seines ersten Romans werden würde. Ein Thema, das Fitzgerald in vielen seiner Kurzgeschichten variiert. Nick Carraway und Jay Gatsby verkörpern Aspekte ihres Autors: Nick ist sozusagen sein besseres, kleinstädtisches Selbst, Gatsby sein faustisches neues Ich, das ihn unglücklich werden lässt.
Sie nehmen die Hörerinnen und Hörer mit in die 1920er-Jahre der fiktiven Stadt West Egg im US-Bundesstaat New York. Wie schaffen Sie es, eine so große räumliche und zeitliche Entfernung akustisch zu überwinden? Auf welche atmosphärischen Geräusche dürfen wir uns freuen?
Oliver Sturm: Meine Inszenierung wird hörbar machen, dass die Handlung in den 1920er-Jahren spielt, mit dem ganzen akustischen Arsenal an alten Telefonen, Fahrstühlen und Eisenbahnen. Und gleichzeitig möchte ich erreichen, dass es doch zeitgenössisch und heutig klingt. Sabine Worthmann hat eine Musik komponiert, die einerseits mit Elementen der Unterhaltungsmusik der 20er-Jahre arbeitet - der Charleston, auf den die Hörer warten, wird kommen, versprochen. Und gegenläufig erklingt eine ganz andere Ebene von Musik, die völlig heutig ist, eine Musik, die von gesellschaftlichen Spannungen und den Gefährdungen der Seele erzählt. Mit solchen Schichtungen arbeitet unsere Inszenierung. Viele der Geräusche werden historisch klingen, etwa die Autos und die Türen. Aber wir betreiben hier keine akustische Geschichtswissenschaft. Es geht um Anklänge und Assoziationen.
Das wäre wirklich mal ein Thema für sich, über das wechselnde Sound-Design der geschichtlichen Epochen nachzudenken. Wie anders muss die Welt um 1900 geklungen haben! In unserem Produktionsteam bin ich der einzige, der in der Kindheit noch das Getöse einer in den Bahnhof einfahrenden schwarzen Dampflokomotive erlebt und in ihrem Dampf gestanden hat. Aber es geht nicht um historische Rekonstruktion, sondern um Berührungen zwischen dem 'Jazz Age' der 1920er-Jahre und unseren 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts.
Die Geschichte erzählt von der Liebestollheit Jay Gatsbys, der eine Welt erschafft, die darauf abzielt, seiner großen Liebe zu imponieren, sie auf materiellem Wege für sich zu gewinnen. Glauben Sie, dass es diese Form des intensiven Werbens und Liebens in Zeiten von Speeddating und kurzlebigen Beziehungen (noch) gibt?
Oliver Sturm: In Gatsbys Idee von der Herstellbarkeit des eigenen Lebensglücks sehe ich Parallelen zur Gegenwart. Ein Soziologe wie Hartmut Rosa würde es die Haltung einer allumfassenden 'Verfügbarkeit' nennen: durch Selbstkontrolle, richtige Ernährung, Sport, Achtsamkeit, Selbstoptimierung, Effizienzsteigerung und Kontrolle über sämtliche Parameter des Seins das eigene Leben und Lieben stetig zu optimieren - wie es sich etwa in der 'Quantified-Self-Bewegung' ausdrückt.
Eine andere Parallele zur Gegenwart ist die Leere und Melancholie inmitten des Reichtums, die Abwesenheit von Lebenssinn in einer saturierten und materiell gesicherten Welt. Glück entsteht aber gerade aus Momenten des 'Unverfügbaren', des nicht Planbaren, nicht Kontrollierbaren. Speeddating und Kurzbeziehungen zeugen von diesem Antrieb, das Unverfügbare der Liebe verfügbar zu machen und das immer noch Bessere zu suchen. Gleichzeitig und zum Glück sind die Menschen nicht so leicht optimierbar, und das intensive Werben und Sehnen wird nicht aussterben. Jay Gatsbys scheinbare Rationalität im Verfolgen des eigenen Weges kollidiert mit seiner völligen Irrationalität im Versuch, die Vergangenheit einer ersten Liebe genauso wiederherstellen zu wollen wie sie einmal war. Ist das romantisch? In jedem Fall aber doch zutiefst illusionär.
Sie haben "Nick Carraway" von Matthias Bundschuh sprechen lassen und "Jay Gatsby" von Michael Rotschopf. Wie haben die beiden in ihre Rollen gefunden? Gab es Überraschungen?
Oliver Sturm: Wie gesagt, verkörpern die Figuren Nick Carraway und Jay Gatsby zwei Lebensaspekte ihres Autors Fitzgerald: In Nick schildert er seine Sehnsucht nach Reinheit und Aufrichtigkeit, in Gatsby die Illusion, ein Ideal von Leben herstellen zu können. Matthias Bundschuh, der gleichzeitig als Erzähler und szenische Figur agiert, ist in seiner Klugheit und sprachlichen Sensibilität für mich der vollkommene Beobachter. In seiner Stimme hören wir Nicks Zurückhaltung und Verschwiegenheit bei gleichzeitiger Offenheit in der Wahrnehmung. Es ist die Perspektive des Middle-West-Kleinstädters, der auf den Materialismus der New Yorker Amüsier-Society schaut, auch mit seiner ironischen Distanz.
Gatsby, der seiner Umgebung ständig eine andere Person vorgaukelt als die er ist, hat sich einen Schutzpanzer aus perfekten Umgangsformen und absurder Höflichkeit geschaffen. Sein Verhältnis zur Welt ist das einer permanenten Halbdistanz, weil er etwas zu verbergen hat. Michael Rotschopf spielt diese prekäre Existenz in Reinkultur und schöpft den Spielraum und das Schillern zwischen echtem und falschem Ich aus. - Überraschungen? Massenhaft, vor allem die, mit welcher Spielfreude sämtliche Schauspieler ins Studio kamen und sich dann gegenseitig getrieben und hochgeputscht haben. Es war die reine Freude, das zu erleben.
Im Roman arbeitet Fitzgerald viel mit Andeutungen, wodurch die Figuren schemenhaft bleiben, dem Leser als Schatten ihrer Selbst erscheinen. In den Filmen fehlt dieses "Schattenartige", was evtl. auch daran liegt, dass Schrift andere Möglichkeiten bietet, die Fantasie anzuregen, als Bewegtbild. Wie gehen sie im Hörspiel damit um?
Oliver Sturm: Das formulieren Sie ziemlich treffend: die Überlegenheit und anderen Möglichkeiten der Sprache im Hörspiel. Fitzgeralds sprachliche Skizzen und die Fülle von Andeutungen lassen eine Tiefe entstehen, die – anders als der Film – über bloße Abbildung weit hinausgeht. Seine Erzählsprache hebt die szenischen Dialoge auf eine andere Ebene. Fitzgerald arbeitet andererseits auch sehr bewusst mit Verflachungen und Pointierungen. Die Nebenfiguren sind oft Karikaturen und lächerliche Pappfiguren, Typisierungen wie aus einer commedia dell'arte. Es hat großen Spaß gemacht, auch diese Figuren einzufangen, beispielsweise den seit einer Woche betrunkenen Mr. Owl, gespielt von Josef Ostendorf, oder die unfreiwillig komische Myrtle, die sich durch ihr Verhältnis mit Daisys Mann aus ihrem sozialen Totentanz zu retten sucht, gespielt von Birgit Minichmayr, oder der tumbe Tom Buchanan, in der Verkörperung von Marc Hosemann (wie passend: zur Zeit als Supermarktfilialleiter in "Die Discounter"). Aus den vielen Nebenfiguren - wir hatten 32 Schauspieler*innen für 40 Rollen - entsteht dann wieder ein sehr komplexes gesellschaftliches Wimmelbild.