Stummfilme: Wie die Musik zum Film kam und Geschichten erzählte
Filmmusik gibt es seit mehr als hundert Jahren. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erleben die Menschen Musik live zu den ersten Kinofilmen. Ein Gespräch mit dem Stummfilmpianisten Richard Siedhoff.
Richard Siedhoff ist Komponist, Darsteller und begleitet seit 2008 Stummfilme am Klavier. Der 1987 in Weimar geborene Musiker hat auch Erfahrung als Cutter im Film und besitzt eine eigene Sammlung an Filmkopien. Zu mehr als 400 verschiedenen Stummfilmklassikern hat er bislang live gespielt - etwa als Hauspianist am Lichthaus Kino in Weimar. Zudem schreibt Siedhoff Filmmusik für Kammerensemble und Orchester und war mitverantwortlich für die Rekonstruktion der sinfonischen Originalmusik von "Der Golem, wie er in die Welt kam", wofür er den 1. Deutschen Stummfilmpreis erhielt. Ein Gespräch anlässlich des Filmmusik-Konzerts der NDR Radiophilharmonie am 13. April in Hannover über die Anfänge und Entwicklung von Filmmusik und die Faszination daran.
Kinopioniere wie die Gebrüder Lumière, Georges Méliès, Buster Keaton und Charlie Chaplin haben schon ab 1895 und um die Jahrhundertwende kurze und längere Filme ins Kino gebracht. Ab wann spricht man von Filmmusik?
Richard Siedhoff: Im Prinzip kam der Film zur Musik. Denn da, wo der Film hinkam, in die frühen Varietés und auf den Jahrmarkt, da gab es Musik schon. Und die hat man dann irgendwann mit dem Film zusammengeführt.
Wann hat sich das Stummfilmkino etabliert? Also nach der frühen Zeit, in der Filme zum Teil noch in Schaubuden, Gemeindesälen, auf Jahrmärkten vorgeführt wurden?
Siedhoff: Im Grunde war nach dem Ersten Weltkrieg das Kino eine etablierte Unterhaltungsform, die das Varieté abgelöst hat und das Massenmedium schlechthin war. Man ging fast täglich einmal ins Kino oder mindestens einmal die Woche. Im Prinzip war das, was heute im Fernsehen sehen ist, damals das Kino.
Welche Funktion hatte damals die Filmmusik, als die Bilder über Jahrzehnte noch ohne Ton auskommen mussten?
Siedhoff: Filmmusik muss die Geschichte erzählen, sie muss nicht unbedingt gleichzeitig erzählen, was man schon sieht. Sie darf auf auch kontrapunktisch arbeiten, sie darf auch kontextualisieren und sie darf den Film ausdeuten, vor allem emotional. Später waren viele Komponisten der Auffassung, dass die Musik das Bild nicht doppeln soll. Bereits 1920 hat der Pionier Hans Landsberger beide Prinzipien verbunden: Einmal das Illustrieren der optischen Vorgänge, die man akustisch umsetzt und auf der anderen Seite das musikalische Ausdrücken seelischer Konflikte.
Nach welchen Vorlagen oder Ideen haben die jeweiligen Künstler am Klavier, in den Orchestern oder an den damals gängigen Kino-Orgeln musiziert?
Siedhoff: Im Kinoalltag der 1920er-Jahre war das meist so, dass der Kapellmeister aus einem großen Fundus von klassisch-romantischen Stücken, die nach Stimmungen sortiert und von Verlagen speziell fürs Kino herausgegeben wurden, für jeden Film für jedes Wochenprogramm eigens eine "Partitur" zusammengestellt hat. Ein großer Flickenteppich, sozusagen. Das war etwas, was den ernsten Komponisten ein Dorn im Auge war. Sie wollten nicht, dass man Fremdwerke so zerpflückte und ihrem Kontext entriss und zur Filmmusik sozusagen "degradierte". Man sollte eigentlich dafür komponieren, das war das Ziel.
Das wurde auch schon in den Zehner- und den Zwanzigerjahren gemacht - jedoch nur für
vergleichsweise wenige, ausgewählte Filmproduktionen. Aber dass wirklich für jeden Film durchkomponiert wurde, das hat sich erst mit dem Tonfilm durchgesetzt, allerdings nicht von Anfang an. Dann hat jeder Film seine eigene Musik bekommen.
Woher kamen diese Kino-Orgeln?
Siedhoff: Die kamen aus den USA, hatten dort großen Erfolg und haben sich in Deutschland erst spät etabliert, erst Ende der Zwanzigerjahre. Die Kino-Orgel wurde ein wenig als Gegenentwurf zum Tonfilm eingesetzt, da sie besser klang als der frühe Tonfilm und mit ebenso vielen Geräuscheffekten aufwarten konnte. So konnte man sogar ein ganzes Orchester einsparen, indem man alles in die Hände eines einzigen Spielers legte. Es sind noch einige davon erhalten. Es gibt eine Kino-Orgel im Grassi-Museum in Leipzig, die ich sehr oft spiele, eine im Filmmuseum in Düsseldorf, eine in Potsdam und in Berlin und auch einige, die privat erhalten sind. Die meisten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg verschrottet.
Wie kann man heute noch als Stummfilmmusiker überleben - es laufen doch praktisch keine Stummfilme unter den Hunderten Filmstarts im Jahr?
Siedhoff: Man muss natürlich viel durch die Lande reisen, weil Stummfilme kaum im normalen Kino laufen - wenn, dann nur als Sonderveranstaltung. Ich spiele auf Festivals, die Stummfilme zeigen, in Kinematheken. Es gibt kleine Kulturclubs, die Stummfilme zeigen und Musiker brauchen. Das sind natürlich alles alte Filme aus den Zehner- und Zwanzigerjahren. Opern werden auch noch aufgeführt, allerdings gibt es dafür Opernhäuser. Heute sind die Kinos aber nicht mehr auf Stummfilm ausgelegt, die wenigsten haben noch ein Klavier, eine Orgel oder gar Platz für ein Orchester.
Sie sind die ganze Zeit über mit im Saal mit dem Publikum, erleben also den Film und gleichzeitig stets die Reaktion der Gäste auf die Live-Musik. Worin besteht die Faszination als Stummfilmmusiker?
Siedhoff: Da kommen zwei Sachen zusammen, die man sonst getrennt betrachtet, nämlich ein Konzert und eben ein Film, wobei der Stummfilm eben noch keinen Ton hat. Deswegen ergänzt sich das kongenial. Ich vergleiche das gern mit der Oper, weil es eine abstrakte Kunstform ist, die viel mehr unterbewusst und subjektiv arbeitet als ein Tonfilm, in dem man das Gesprochene mit auf den Weg bekommt. Im Gegensatz dazu muss das Publikum im Stummfilm viel mitdenken, auch unbewusst. Das spricht irgendwie mehr die Seele an
Und das ist eine große Faszination: Klappt das jetzt, wenn man weiß, das ist eine durchkomponierte Musik? Schafft der Dirigent es, die Akzente zu treffen, dass das Timing passt? Schafft es der Komponist, die Spannung zu halten? Man muss auch bedenken, dass in einem Stummfilm, der 90 Minuten dauert, auch 90 Minuten Musik drin sind, während im Tonfilm mit 90 Minuten vielleicht nur 30 Minuten Musik zu hören sind. Es ist also sehr viel mehr Musik, und das in Konzertatmosphäre. Das ist natürlich etwas Besonderes.
Stummfilm ist eine wunderbare Kunstform, die unglaublich sensibilisierend wirkt. Das ist kein Youtube-Clip, den man sich anschaut und auf seinem Telefon durchwischt, sondern man sitzt im Kino und andere Sinne werden angesprochen. Das ist ein Ereignis.
Bei so vielen Stummfilmen, die noch erhalten sind - haben Sie einen Lieblingsfilm?
Siedhoff: "Metropolis" ist einer der großen Klassiker und ich zähle ihn zu einem meiner Lieblingsfilme. Ich bin ein großer Freund der Filme Buster Keatons, von dessen Komödien, die unglaublich raffiniert gemacht sind, so, wie er montiert und seine Gags optisch aufbereitet. Und ich finde die britische Produktion "The Informer" von 1929 sehr interessant, ein toller Thriller, der in Irland spielt. Es gibt auch immer noch viele Neuentdeckungen.
Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur. Ein Auszug aus "The Informer" ist hier auf youtube zu sehen. Das Britische Filminstitut (BFI) hat ihn vor nicht allzu langer Zeit restauriert. Das Institut bezeichnet den Film als "einen der besten britischen Filme der Stummfilmzeit."