Kennen wir unsere Kinder wirklich? Verstörende Netflix-Serie "Adolescence"
Ein brutaler Mord, ein 13-jähriger Verdächtiger und eine Gesellschaft am Rand der Verzweiflung: Die Netflix-Serie "Adolescence" ist ein fesselndes Drama, das weit über Kriminalgeschichte hinausgeht.
Der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper) wird beschuldigt eine Mitschülerin auf grausame Weise ermordet zu haben. Während Detective Inspector Luke Bascombe (Ashley Walters) und Polizeipsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) den Fall untersuchen, kämpft Jamies Vater Eddie ("Peaky Blinders"-Star Stephen Graham) mit der Frage: Wie gut kennen wir unsere eigenen Kinder wirklich?
One-Shot: Technische Umsetzung reißt das Publikum mit

Was "Adolescence" so besonders macht, ist die technische Umsetzung. Jede der vier Episoden ist ein echter One-Shot - gedreht in einer einzigen ungeschnittenen Kamerafahrt. Das erzeugt eine unglaubliche Intensität, die das Publikum mitten ins Geschehen zieht. Regisseur Philip Barantini, der diese Technik bereits in seinem Spielfilm "Yes, Chef!" einsetzte, bringt die Unmittelbarkeit hier auf ein neues Level.
Die Kamera bleibt dicht an den Figuren, folgt ihnen atemlos durch Verhöre, häusliche Konflikte und emotionale Zusammenbrüche. Diese filmische Herangehensweise lässt uns Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen in Echtzeit miterleben, als wären wir selbst Teil der Ermittlungen.
Jugenddarsteller Owen Cooper: Ein Debüt, das unter die Haut geht

Im Zentrum dieser aufwühlenden Geschichte steht Owen Cooper als Jamie Miller. Was der britische 14-Jährige hier leistet, ist bemerkenswert. Es ist seine erste Rolle vor der Kamera, und doch trägt er die Serie über weite Strecken beinahe allein. Besonders in den beiden Episoden, die sich nahezu vollständig um seine Figur drehen, liefert Cooper eine bemerkenswerte Leistung ab - und verkörpert mit beklemmender Authentizität die Zerbrechlichkeit und die dunklen Abgründe seiner Figur.
Neben Owen Cooper glänzt ein hochkarätiges Ensemble: Stephen Graham ("Gangs of New York", This is England“, "Snatch"), der nicht nur als Jamies Vater überzeugt, sondern auch als Co-Autor und ausführender Produzent an der Serie beteiligt ist, bringt die innere Zerrissenheit eines Vaters auf den Punkt, der an die Unschuld seines Kindes glauben will. Ashley Walters als Polizist und Erin Doherty als Psychologin liefern eine starke Leistung ab, während Christine Tremarco als Jamies Mutter die emotionale Wucht der Serie weiter verstärkt.
Serie bewegt Großbritannien: 24 Millionen Streams in einer Woche

"Adolescence" hat einen Nerv getroffen. In der ersten Woche erreichte die Serie allein in Großbritannien über 24 Millionen Streams und belegte in 79 Ländern den Spitzenplatz der Netflix-Charts. Selbst Premierminister Keir Starmer sprach im Parlament darüber, wie er die Serie mit seinen Kindern schaut.
Die Handlung ist fiktiv, aber von realen Fällen inspiriert. Stephen Graham beschreibt, wie ihn Berichte über jugendliche Gewaltverbrechen zu der Idee für die Serie brachten: "Ich habe von einem Jungen gelesen, der ein Mädchen erstochen hatte. Kurz danach sah ich einen weiteren Fall - in einem ganz anderen Teil des Landes. Das hat mich tief getroffen und die Frage aufgeworfen: Was läuft hier schief?"
Incel-Bewegung und toxische Männlichkeit: Wie gut kennen wir unsere Söhne?
Im Zentrum der Diskussion stehen Themen wie toxische Männlichkeit und die gefährliche Verbreitung von Incel-Ideologien im Netz. Incel steht für "involuntary celibate" - also "unfreiwillig zölibatär" - und bezieht sich auf Männer, die sich von Frauen sexuell abgelehnt fühlen. Was sie eint, ist ein tief verwurzelter Frauenhass, den sie in Online-Foren und sozialen Netzwerken verbreiten.
Drehbuchautor Jack Thorne ("Enola Holmes 1&2", "Wunder") beschreibt, wie leicht junge Männer in diese Strömungen hineingezogen werden: "Wenn ich als Teenager hören würde, dass sich 80 Prozent der Frauen für 20 Prozent der Männer entscheiden - und ich also manipulieren muss, um Anerkennung zu finden - dann hätte mich das überzeugt." Besonders besorgniserregend: Eine Studie des Londoner King's College zeigt, dass jeder vierte Mann zwischen 16 und 29 Jahren glaubt, es sei schwieriger, heute ein Mann zu sein als eine Frau.
Social-Media-Verbot an Schulen: Eine längst überfällige Diskussion
Jack Thorne fordert deshalb ein Social-Media-Verbot für Jugendliche, um sie vor solchen Ideologien zu schützen. Während die britische Regierung bisher nur ein Handyverbot in Schulen diskutiert, zeigt "Adolescence", wie dringend die Debatte über männliche Rollenbilder und die Erziehung von Jungen geführt werden muss. Die Serie ist mehr als ein Krimi - sie ist ein eindringlicher Weckruf.
Bei der Talk-Show von Host Jimmy Fallon erzählt hier Schauspieler Stephen Graham, wie Kapitel der "Adolescence"-Serie in einem Rutsch (ohne Schnitt) gefilmt wurden. Es ist am Ende kurz zu sehen, wie die Kameraleute sich die Kamera weiterreichen, während eine Schauspielerin die Treppe hochläuft (Video auf englisch).
