"Die Heldenerzählung ist immer ein Flirten mit der Lüge"
In der neuen Folge des Philosophie-Podcasts Tee mit Warum fragen sich Denise M'Baye und Sebastian Friedrich: Brauchen wir noch Helden? Und beleuchten auch die Rolle der großen Heldenerzählungen. Dafür sprechen sie mit dem Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt.
Was macht den Superhelden-Film aus?
Wolfgang M. Schmitt: Superhelden-Filme sind nach einem Muster gestrickt, das sich ständig wiederholt. Wir haben es mit einer kleinen Gruppe von Helden zu tun, die nun ein bisschen diverser sind als früher, aber in der Regel bleibt der Bürger außen vor und stattdessen regeln ein paar Leute, die Superkräfte haben, die Weltgeschicke.
Warum sind diese Erzählungen so ein Erfolgsmodell?
Schmitt: Dass wir Helden im Kino haben ist nichts Neues, sondern so alt wie das Kino selbst. Das Buch von Joseph Campbell "Der Heros in tausend Gestalten" ist seit Jahrzehnten das am meisten rezipierte Buch in Hollywood. Ein Buch, das versucht den Heldenmythos wieder in die Gegenwart zu holen. Ich glaube, dass die Helden uns zum einen die Möglichkeit der Identifikation bieten - eigentlich wollen wir auch ein bisschen heroisch sein. Zum anderen ist das auch eine Entlastungsfunktion: Da ist schon jemand, der sich um alles kümmert, also kann ich mich im Kinosaal zurücklehnen und entspannen.
Campbell beschreibt die "zwölf Stufen der Heldenreise". Könnte man den Helden auch ganz anders erzählen?
Schmitt: Sicherlich könnte man die Helden sehr viel gebrochener darstellen als das derzeit der Fall ist. Zwar versucht man mit Psychologisierungen eine gewisse Tiefe herzustellen, aber vergleicht man das mit dem Western der 50er- oder 60er-Jahre, dann ist das doch eher ein Rückschritt, was die Brüchigkeit anbelangt. Damals hat man zum Beispiel in einem Film wie "Der Mann, der Liberty Valance erschoß" ganz anders über Helden erzählt. Man sagte schon, dass Helden etwas sind, was die Gesellschaft benötigt. Man müsse auch Helden erfinden, aber man hat dann doch den Blick hinter die Kulissen gezeigt. Dieser Film von 1962 mit James Stewart und John Wayne ist so angelegt, dass James Stewart ein erfolgreicher Senator wird, weil er als der Mann gilt, der den Schurken Liberty Valance erschoss. Die Wahrheit ist aber, dass dieser Schurke aus dem Hinterhalt von John Wayne, der einen alten Cowboy spielt, erschossen wurde. Diese Legende strickt man nun um den modernen Senator, damit er für das moderne Amerika ein Heldenbild verkörpern kann. An solchen Filmen sieht man schon sehr deutlich, dass Hollywood zu einer gewissen Zeit auch sehr kritisch den Heldenmythos reflektiert hat.
Die moderne Batman-Rolle weicht schon gewisse Brüche auf. Der Joker existiert auch nur, weil es Batman gibt. Würdest du sagen, dass die Batman-Filme aus den Beschreibungen rausfallen?
Schmitt: Batman fällt schon etwas aus dem Rahmen. Weil wir durch diese Christopher-Nolan-Trilogie einen Helden gezeigt bekommen, der einer ist, der versucht eine liberale Gesellschaft herzustellen, aber ihnen auch die Lüge verkaufen muss. Zugleich haben wir aber auch Antipoden, die nicht dem "Nur-Bösen" entsprechen. Sondern die sehr deutlich in den Figuren des Jokers oder Bane zeigen, wo die liberale Gesellschaft ihr blinden Flecken hat. Damit ist diese Trilogie eine Ausnahme von den sonstigen Superhelden-Filmen, wo es doch sehr klar darauf hinaus läuft, dass die Helden schon wissen, wo es lang geht.
Ist es wünschenswert, dass wir in dieser alten Heldenerzählung steckenbleiben? In der es darum geht, dass ein Einzelner zum Helden wird? Kann man nicht auch das kollektive Heldentum erzählen?
Schmitt: Beim populären Erzählen im Kino kommen wir kaum umhin uns an einzelnen Figuren festzuhalten. Die Personalisierung ist dem Kino schon eingeschrieben. Man kann vielleicht noch einen Ensemblefilm herstellen, aber man braucht Protagonisten. Der Held ist in der literaturwissenschaftlichen Beschreibung häufig nichts anderes als der Protagonist. Das können vielleicht auch zwei oder drei sein, aber wo das Kollektiv auftritt, da wird es beim populären Erzählen schwierig. Wenn wir aber über die Wirklichkeit sprechen, die nun einmal kein Film ist, sollten wir viel mehr über das Kollektiv nachdenken. Auch das Kollektiv kann sich heroisch verhalten. Da, wo sich Menschen zusammen tun, um gegen Unrecht aufzustehen, da ist das für jedes Individuum eine Heldentat, aber im Ganzen gesehen, ist es auch noch einmal heldenhaft. Gerade da hat das Heroische ein emanzipatorisches Potenzial, das man nicht geringschätzen sollte.
Gibt es abseits von Erzählungen in unserer Realität, Helden, die auf Basis einer Lüge zum Helden werden?
Schmitt: Das ist eine Interpretationsphase. Aber wir bekommen beispielsweise in der Kriegsberichterstattung sehr viel von Helden erzählt, wo man bei Embedded Journalism in Frage stellen kann, inwiefern es sich dabei wirklich um heroische Taten handelt oder was Propaganda ist. Die Heldenerzählung ist immer ein Flirten mit der Lüge. Man versucht die Wirklichkeit, die nun einmal keine Erzählung ist, in eine Erzählung zu pressen. Es wird versucht die Wirklichkeit dem anzupassen, was wir als Heldenerzählung im Kopf haben. Da muss man das eine oder andere weglassen oder ausschmücken. Genau das, was ein Film macht, wenn er ein historisches Ereignis aufgreift. Deswegen sind sehr viele Filme der 2000er- und der 2010er-Jahre darauf bedacht, diesen Heldenmythos in Frage zu stellen. Clint Eastwood ist jemand, der das mach. Der sich fragt, wie heroisch die Taten des Zweiten Weltkriegs wirklich waren und einen Film wie "Letters from Iwo Jima" macht, der die andere Seite zeigt. Da sehen wir plötzlich: Im Krieg sterben zunächst einmal Menschen - und da ist noch gar nicht von Helden die Rede. Das ist etwas, das Hollywood im Zuge der völlig missglückten Invasionen in Afghanistan und Irak macht. Man versucht einmal in Frage zu stellen unter welchen Narrativen da Leute losgeschickt werden.
Sind diese Filme Ausdruck einer postheroischen Zeit?
Schmitt: In gewisser Weise schon. Zumindest sieht man nicht diese Verklärung. Dies war ein gerechtes, ein gutes Opfer und zu einem modernen Staat gehört auch, dass man bereit ist, sich zu opfern. Das wird sehr stark in Frage gestellt, weil man immer wieder fragt: Wozu? Wofür haben wir das alles getan. Oftmals kann Clint Eastwood, der wirklich sehr patriotisch ist, in seinen Filmen keine Antwort daraufgeben: Es bleibt eigentlich Verzweiflung. Das ist ein deutliches Zeichen für eine postheroische Gesellschaft, die in erster Linie die Opfer beklagt. Und diese später dann vielleicht erst als Helden sieht.
Braucht es heute noch Helden?
Schmitt: Ich gehe nach wie vor gerne ins Kino, um Helden zu sehen. Nicht, weil ich hoffe, dass wir wieder in besonders heroischen Zeiten leben. Heroische Zeiten sind sehr unangenehme gefährliche Zeiten. Ich wünsche mir nicht, dass die Helden-Erzählung verschwindet, denn sie ist ja schon spannend. Aber ich wünsche mir, dass sie im Kino aufgehoben ist - oder auf der Opernbühne. Dass wir eine Gesellschaft haben, die nicht unbedingt Helden benötigt. Zumindest nicht Helden, die zu allem bereit sind und sich auch noch selbst opfern müssen. Aber im Kino sehe ich das hin und wieder gerne. Wie ich auch im Kino gerne sehe, wenn Leute auf sich schießen. Das möchte ich in der Wirklichkeit auch nicht haben.
Würdest du sagen, dass es eine Rückkehr des Heroischen gibt? Ich denke jetzt insbesondere an den Krieg in der Ukraine. Und einen Heldenmythos, der damit auch ein Stück weit wieder stärker geworden ist.
Schmitt: Das steht zu befürchten. Wenn man in die Popgeschichte der 80er- oder 90er-Jahre geht, dann ist das Heldenthema auch präsent. Aber zugleich hat man den Diskurs, dass wir beim "Ende der Geschichte" angelangt seien, also gibt es auch keine Helden mehr. Dann gibt es solche Songs wie von Bonnie Tyler "Holding Out for a Hero", aber wenn man sich den Text genau anschaut, dann geht es da um einen Helden im Bett - und mehr auch nicht. Die Antwort kommt von Tina Turner "We Don't Need Another Hero". Und Milva sagt 1991: "Es gibt immer noch Helden - und sie sehen aus wie du und ich". Also es sind Alltagshelden. Dieser Diskurs ist aber jetzt durch Aufrüstung, durch geopolitische Debatten, durch den akuten Krieg in eine andere Richtung gegangen. Wir sehen jetzt, dass die, die bereit sind für etwas zu kämpfen und dafür zu sterben, wieder hoch angesehen werden. Dass aber damit auch die Forderung an alle anderen verknüpft wird, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Wenn man sich vorstellt, dass wir für die nächsten Jahrzehnte in Dauerkonfrontationen mit anderen Ländern leben. Werden wir bald die Kinder oder uns selbst losschicken müssen, um zu kämpfen? Dieser Diskurs ist sehr stark zurück. Es gibt Militärs, die sich an den Beginn des Ersten Weltkrieges erinnert fühlen, wo wir auch so eine heroische Stimmung hatten - selbst bei Linken, Intellektuellen und Pazifisten. Das kann sehr schnell wiederkommen. Da stellt sich dann auch die Frage, inwieweit das Kino diese Heldengeschichten nicht nur zur Freude aufbewahrt, sondern sie wirklich konserviert - und man bald wieder drauf zugreifen kann.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.