Tage des Exils: Lesung mit intimer Perspektive
Noch bis 7. März finden in Hamburg die Tage des Exils statt - mit 50 Veranstaltungen an 42 Orten. Die Künstlerin Sonja Szylowicki nähert sich dem Thema aus fast intimer Perspektive, nämlich anhand von Briefen der Zwillinge Helga und Ilse Aichinger.
Die beiden werden im Alter von 17 Jahren getrennt: Helga ist im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien geflohen, Ilse - die spätere bekannte österreichische Schriftstellerin - bleibt in Wien zurück, mit Mutter und Großmutter.
10. Juli 1939: "Mein liebes Muttele und Ilseschwester, ihr wisst ja gar nicht, wie froh ich bin, dass ich euch schreiben kann, ich mach mir solche Sorgen um euch, kommt ihr auch mit dem Geld aus?" Zitat aus einem Brief von Helga Aichinger
Wie klingt Exil, welche Worte fangen das Gefühl ein, nicht mehr zurück nach Hause zu dürfen? Sonja Szylowicki und Bernd Butz am Akkordeon wählen den leisen Ton, den zuhörenden, atmenden Klang: einen Briefwechsel von 1939 bis 1947, zwischen Freiheit und Diktatur. Aus den dunkelsten Jahren der Nazizeit.
Künstlerin Szylowicki ist selbst ein Zwilling
"16. Juli 1939: "Mein liebes kleines Helgale, du, ich kann dir gar nicht beschreiben, was für eine Freude du uns, besonders mir und Mutti, mit deinem Brief gemacht hast. Ich muss dir sagen, ich konnte nicht solche Briefe schreiben!" Zitat aus einem Brief von Ilse Aichinger
Szylowicki, die seit drei Jahren daran arbeitet, spricht von einem Herzensprojekt: "Das hat mich halt sehr berührt, weil ich selber eine eineiige Zwillingsschwester habe. Also Trennung, in dem Alter und so lang und so ungewiss - das ist eigentlich unvorstellbar, weil eine Zwillingsschwester ein Teil von einem selbst ist."
Der Briefwechsel von Helga und Ilse Aichinger sei "wirklich enorm" in der Zeit, sagt Szylowicki: "Sie schreiben sich wirklich Romane hin und her, jeden Tag, auch über ganz alltägliche Dinge."
Ilse Aichinger: Für die Nazis ein "Mischling ersten Grades"
Exil bedeutet für Helga: Sicherheit und Rettung. Seit dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazideutschland lebt Ilse mit ihrer Mutter und Großmutter, der Tante und dem Onkel in ständiger Angst vor der Deportation. Ilse Aichinger gilt als sogenannter "Mischling ersten Grades", weil die Mutter jüdisch, der Vater kein Jude war.
Im Krieg, von 1940 bis 1945, können die Schwestern nur über Rotkreuz-Nachrichten kommunizieren, die brauchen oft ein halbes Jahr. Hier werden daraus beinahe Chat-artige Brief-Splitter: "Helgi bei mir zu Besuch, denken an euch, sind wohlauf. Helgi weiter sehr glücklich, vollständig überrascht, sehr besorgt. Wer ist Walter, warum nichts darüber? Maßlose Sehnsucht, wir alle gesund, Küsse Ilse Mutti."
Abgrund wird am Ende überwunden
"Sie wollten einfach weg von Wien und saßen da quasi fest", erzählt die Sprecherin und Schauspielerin Szylowicki, die in Hamburg lebt. Zufällig hat ihre Zwillingschwester sie auf den Briefwechsel aufmerksam gemacht. "Ich habe natürlich diese Briefe so oft gelesen, dann habe ich alles abgeschrieben, gekürzt und gekürzt und immer wieder gelesen. Deswegen sind die mir schon so nah mittlerweile."
"Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder - Kinder, mit denen irgendetwas nicht in Ordnung war." Zitat aus einem Brief von Helga Aichinger
Auf der Bühne stehen zwei symbolische Inseln. Auf einem Podest ein Tisch, darauf liegen ein Spitzendeckchen und Foto, das steht für Wien, ein anderes mit einem "Union Jack" über einem Tisch - für Freiheit, Großbritannien. Im Stück wie auch in der Realität wird dieser Abgrund am Ende überwunden.
Lesung soll auch in die Schulen kommen
Die Schauspielerin, die selbst jüdische Wurzeln hat, findet dieses Projekt gerade jetzt umso wichtiger: Die letzten Zeitzeugen sterben, der Antisemitismus wächst schlagartig: "Ja, das ist irgendwie auch bitter. Wir hoffen glaube ich alle, dass es da noch eine Wendung gibt."
Ihr Wunsch ist es, die Lesung auch in Schulen zu zeigen: "Das sind eben junge Menschen, die diese Briefe geschrieben haben, und dann kann man auch eine Identifikation erschaffen. Ich finde immer, dass man als Zuschauer, sobald man ein Einzelschicksal hat, viel mehr Empathie empfinden kann, als wenn man Zahlen und Fakten hört."
"Doch ich sehe jetzt, alle Worte werden zu wenig, alle Worte sind nichts, ich höre auf." Zitat aus einem Brief von Helga Aichinger
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