Kammerballett: Chance für ukrainische Ballerinos und Ballerinas
Vor fast genau einem Jahr wurde das Hamburger Kammerballett gegründet. In Kooperation mit John Neumeiers Hamburg Ballett können hier geflüchtete ukrainische Tänzerinnen und Tänzer weiterarbeiten. Jetzt trat die Company auf Kampnagel auf.
Nebel kriecht über den Boden - die Tänzer kommen wie aus dem Nichts: von hinten nach vorne, auf allen Vieren, in schwarzen Jacken, Kapuzen über dem Kopf. Die flatternden Geräusche klingen wie auffliegende Vögel - oder wie fliegende Granaten. Mittendrin: eine Tänzerin in Weiß. Sie blickt sich um, fast erschrocken. Klar ist: Diese Atmosphäre vermittelt Krieg, Bedrohung, Verunsicherung.
Durch Tanz die schlechten Gefühle ausdrücken
21, 26 und 27 Jahre sind sie alt: Viki, Nikita und Katia sind aus Charkiw und Kiew geflüchtet. Als der tosende Applaus vorbei ist, sitzen sie erschöpft im leeren Saal auf Kampnagel. Froh wirken sie nicht wirklich. "Es fühlt sich fast jeden Tag schrecklich an, wenn du die Nachrichten liest, wenn du all diese schlimmen Dinge siehst, die gerade passieren - in unserem Land, unseren Familien. Wir kämpfen jeden Tag", sagt Nikita. Den Dreien ist die Anspannung anzumerken - kaum ein Lächeln. Das Tanzen hilft, findet Nikita. Die schlechten Gefühle könne er nutzen, um sie nach außen zu tragen.
Zarte, fast federleichte Pas de deux, gepaart mit heftigen, harten Gruppenchoreografien, die fast soldatisch exakt wirken, und sehnige, gespreizte Bewegungen: Einmal tragen sie weiße Masken, verschwinden in der Anonymität. Viki fühlt sich in diesem Ensemble zu Hause, denn sie hätten alle dieselben Gefühle. Schmerz ist das Wort, das einem einfällt.
Hamburger Kammerballett: Tanzcompany und Sozialprojekt
Isabelle Rohlfs hat das Hamburger Kammerballett letztes Jahr mitgegründet. "Wir versuchen, immer da zu sein - in jeder Lebenssituation. Es ist nicht nur eine Company, die Kunst produziert, sondern es ist auch ein Sozialprojekt. Wir helfen bei allem, was nötig ist, und versuchen, eine zweite Familie zu sein", sagt Rohlfs. Für sie ist die Arbeit auch ein Spagat, denn "der Grund dafür ist natürlich total schlimm und wir haben etwas Schönes daraus gemacht."
Viki sagt zum Beispiel, dass sie jetzt mit viel mehr Seele tanzt. Darauf angesprochen, wie es ihren Familien in der Ukraine geht, geraten sie ins Stocken: Sie seien täglich mit zu Hause in Kontakt, hören von den Sirenen und den nächtlichen Bombenangriffen. An dieses Leben unter Dauerbedrohung müsse man sich gewöhnen - oder man stirbt. Dennoch hätten die Eltern ihnen zur neuen Premiere viel Glück gewünscht.
Das Gute siegt immer über das Böse
Den jungen Tänzern geht es nicht gut, weil sie in Sicherheit sind, aber die Liebsten nicht. Katia ist dennoch glücklich, dass sie tanzen kann und einen sicheren Ort zum Leben hat. Ihr Tanz lässt - bei allem Schmerz - der Schönheit Raum. Ob Nikita je daran denke, in die Ukraine zurückzukehren, um an die Front zu gehen? Er zögert. Für ihn sollte jeder und jede das tun, was er am besten kann. Freunde von ihm seien eingezogen worden, einige sind gestorben. Dann stockt seine Stimme. Angst mache ihm das, aber wie könne die Ukraine ohne Truppen gewinnen? Es ist eine Situation, die sprachlos macht und die jedes Urteil verbietet. Hoffnung habe er - wie alle in der Ukraine, sagt er. Das Gute würde immer über das Böse siegen. Nur - zu welchem Preis?