"Das 13. Jahr" von Signa: Beeindruckende Uraufführung in Hamburg
Das Performance-Kollektiv Signa gehört seit Jahren zum Innovativsten, was man im europäischen Theater sehen kann. Die neueste Produktion des Kollektivs hat am Wochenende in Hamburg seine Uraufführung gefeiert. Bei "Das 13. Jahr" werden die Zuschauer aktiv in das Stück eingebunden.
Eine Aufführung von Signa kann schon mal zwei Tage dauern. Die dänisch-österreichische Gruppe bespielt verlassene Orte und Hallen mit Stücken, in die man über Stunden hinweg eintauchen kann. Im Vergleich dazu war die Premiere auf dem ehemaligen ThyssenKrupp-Gelände in Hamburg fast schon kurz. Fast sechs Stunden hat sie gedauert - Kulturredakteur Peter Helling war dabei.
Wenn Signa irgendwo performt, sind Theaterfans kaum zu halten. Viele finden diese Performancees geradezu bewusstseinserweiternd. Bist du denn schon wieder hergestellt?
Peter Helling: Halbwegs, Ich gebe zu, ich bin durchgeschüttelt. Das war ein nebliger Albtraum, indem man da eingetaucht ist. Es ist ein Theater, das ein wirklich verändert: Es ist hochpoetisch, man sieht Dinge, die man gar nicht gerne sieht, es ist übergriffig, es ist manchmal auch aggressiv, aber es bewegt, es geht einem zu Herzen. Ich tauche so langsam wieder auf.
Was heißt, man sieht Dinge, die man gar nicht gerne sieht?
Helling: Man taucht tatsächlich in eine Familienwelt ein, die einen selbst wieder über die eigene Familie sprechen lässt. Also, man selbst taucht in sein 13. Jahr ein. So heißt ja der Abend. Man wird wieder zwölf. Das zumindest ist die Behauptung dieses Experiments - und ich kann für mich sagen, es gelingt tatsächlich.
Wie stellt die Gruppe das an?
Helling: Es spielt auf einem Industriegelände. Man geht mit anderen Zuschauerinnen und Zuschauern - 40 insgesamt - erst mal in so einem nüchternen Wartesaal. Dann kommen drei Performer und begrüßen einen und sagen: "Herzlich Willkommen in einer Simulationswelt. Versetzen Sie sich bitte mal in ihr 13. Jahr, in das Jahr als Sie Kind waren, und mit einem Bus in die Bergwelt fuhren - in ein Ferienlager." Auf einer Videoleinwand sieht man Bilder einer vernebelten Berg- und Waldlandschaft und man soll sich gedanklich darauf vorbereiten, dass man irgendwann aussteigt und als Kind in diesen Nebel läuft. Und dann fängt die Performance an.
Wie ist denn das für dich als Kritiker? Du brauchst ja eigentlich ein bisschen Distanz dazu. Konntest Du Dich so richtig fallenlassen?
Helling: Ja, ich habe mich auf das Experiment eingelassen, konnte mich fallenlassen. Ich bin ziemlich tief eingetaucht. Es gab Kolleginnen, die haben tatsächlich mit Blöcken mitgeschrieben, mussten aber immer so tun, als wären sie Zwölfjährige, die auf ihren Blöcken malen. Das heißt, wir durften uns quasi nicht als Kritiker enttarnen. Ich durfte nicht mein Mikrofon auspacken, das war ganz wichtig. Ich saß also als einer von 40 Zuschauern da, und wir sind dann aus dem Warteraum durch einen Gang geführt worden, in eine Halle und standen plötzlich in einem nebligen Dorf: zehn Hütten, umgeben von seiner Berg- und Waldlandschaft. Man hörte Tierlaute, man hört Wind und sieht Nebel. In den Hütten sitzen lebensgroße Puppenwesen, Maskenwesen, aber starr - aber man spürt schon, dahinter müssen sich Schauspieler verbergen.
Plötzlich packt einen eine Schauspielerin und ein Schauspieler in beigefarbener Kleidung und zieht einen mit gedämpfter Stimme in eine der Hütten und sagt: "Kommt mit, ihr müsst euch verstecken". Die beiden stellten sich als unsere Gasteltern heraus. Wir, die Zuschauern sind Not-Kinder - so werden wir genannt. Wir kommen in diesem Nebel Dorf unter, werden ja quasi in Schutz genommen und tauchen ein in diese Familie. Das funktionierte wirklich überzeugend. Meine Gasteltern, das waren Michael und Gilda, gespielt von Daniel Hoevels vom Schauspielhaus und Mareike Wenzel von Signa, haben das so lebensecht gespielt. Ich sah mich plötzlich am Küchentisch wieder und habe Kartoffeln geschnibbelt für eine abendliche Suppe. Aber Vorsicht: Bloß nicht lachen! Das war verboten. Aber alle hatten auch Angst vor dem, was draußen passiert. Das war wirklich unheimlich.
Was passierte dann?
Helling: Die 40 Zuschauer und Zuschauerinnen wurden aufgeteilt in die zehn Hütten und waren jeweils zu viert plus der beiden Gasteltern. Und dann ging es in den Alltag - und es funktioniert tatsächlich. Mein Gastvater Michael, gespielt von Daniel Hoevels, spricht mich plötzlich ganz vertraulich an und fragt mich: "Aus welcher Familie kommst Du denn? Bist Du einsam? Und hast Du Brüder?" - und ich sage: "Ja, ich habe zwei ältere Brüder." Plötzlich kommt er mir auch körperlich näher und fragt: "Mensch, möchtest Du einen Schnaps trinken?"
Schnaps - mit zwölf?
Helling: Ja, Das war pötzlich ganz unheimlich, diese Übergriffigkeit war so lebensecht gespielt, dass ich mich fragte: Was wäre, wenn ich zwölf wäre, ein Mann neben mir sitzen hätte, der mir einen Schnaps einschenkt, mir langsam näher kommt und seine Hand auf meine legt? Plötzlich ist dieser Abend einer über Missbrauch und Übergriffigkeit. Aber: Ich bin jetzt älter. Und kann jetzt verstehen, was ich mit zwölf noch nicht verstehen konnte. Und das ist die Klugheit dieses Abends. Man taucht in die Geschichte ein, ist aber immer noch der Erwachsene, der seinem zwölfjährigen Selbst zusieht.
Was haben die anderen Zuschauer und Zuschauerinnen gesagt?
Helling: Eine Frau meinte, es sei ein unglaubliches Erlebnis gewesen und sie habe feststellen müssen, dass sie eine wirklich glückliche Kindheit gehabt habe. Ein anderer Zuschauer lobte die "unfassbar dichte Atmosphäre" und dass man wirklich in die Performance hereingezogen wurde. Das habe mit Theater nichts mehr zu tun, weil die Schauspieler zu einem eine so enge Beziehung aufbauten. Eine weitere Frau aus dem Pulikum sagte, sie habe tatsächlich Dinge erzählt, die ihr sonst gar nicht in den Sinn gekommen wären. Sie sei kaum aus der Simulation herausgekommen - das ging mir auch ein bisschen so.
Wir haben im Übrigen auch kleine Expedition gemacht zu den anderen Hütten. Immer wieder wurde die Performance von Durchsagen unterbrochen, wo es hieß: Es ist jetzt Nachmittag, gleich wird es Nacht. Und uns wurde immer gesagt: "Nachts kommen die Geister". Ganz wichtig: Die Gruppe Signa hat für Notfälle Alarmknöpfe in den Hütten angebracht, die man drücken konnte. Das ist bei dieser doch übergriffigen Art Theater ziemlich gut.
Das Gespräch führte Raliza Nikolov. Die Performance läuft in Hamburg noch bis zum 20. Dezember. Alle Aufführungen sind zurzeit ausverkauft.