Zirkus im Wandel der Zeit
Dressierte Pferde und Löwen, Rad fahrende Elefanten und rechnende Esel, halsbrecherische Hochseilnummern und tragisch-tölpelhafte Clowns. Seit dem späten 18. Jahrhundert zeigen Zirkusse Menschen, Tiere, Sensationen. Sylke Kirschnick, Germanistin an der Universität Potsdam, hat jetzt in einem opulenten Sachbildband die Kulturgeschichte des Zirkus beleuchtet - von seinen Anfängen bis in die 1950er Jahre. Manege frei! So heißt das Buch.
Was für Menschen sind Artisten?
Es riecht nach Sägespänen und wilden Tieren. Musik ertönt. Hereinspaziert, meine Damen und Herren. Die Menge hält den Atem an. Artisten in Fantasiekostümen fliegen unter dem Zeltdach umher. "Was für Menschen, diese Artisten! Aber sind es denn welche?" zitiert die Germanistin Sylke Kirschnick Thomas Manns Zirkusbesucher, den Hochstapler Felix Krull:
"Um in der Moderne als Mensch angesehen zu werden, muss man ein bestimmtes Geschlecht haben, sich wenigstens zeitweise als vernunftbegabt erweisen und sich altersgemäß verhalten. Auf all das pfeifen die Clowns. Aber auch die verwegenen Salto-mortale-und Twistsalto-Reiter, fliegenden Menschen und Sensationsartisten."
Manegespektakel spiegeln Zeitgeist wieder
Zirkus - ein Raum, der die Regeln menschlichen und tierischen Verhaltens spielerisch außer Kraft setzt. Und in diesem Raum die unterschiedlichsten Menschen versammelte: vom Dienstboten bis zum Kaiser, vom Professoren bis zur Wollspinnerin. Kirschnick erzählt die Geschichten der großen Zirkusse, Krone, Busch, Renz. Die der Clowns und Artisten. Der Dompteure und Zirkuszelte. Und wie der Zeitgeist sich auch in den Programmen widerspiegelte. Besonders gut zu sehen an den großen Pantomimen: Historischen Spektakeln über Katharina II., den Einsatz von U-Booten im Ersten Weltkrieg oder den deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Herero, die der Zirkus Busch 1904 zeigte:
"Buschs Pantomime unterschlug den Völkermord und suggerierte ein Kräftemessen militärischer Gegner, aus dem die deutschen Kolonialtruppen als Sieger hervorgingen: durch die 'glänzenden Attacken' der deutschen Kavallerie wurden die Herero im Circus Busch 'zu Tode getroffen' und unter 'den Klängen des Präsentiermarsche'“ wurde die 'deutsche Trikolore' gehisst." (Buchzitat)
Kirschnik schätzt, dass unter den über 120 Manegespektakeln etwa ein Drittel so rundeheraus nationalistisch und rassistisch gewesen sei. "Beiläufig aber vermittelten und produzierten auch die romantischen Sagen, Märchen und Legenden eine Fülle an Bildern und Fantasien, die wenig dazu beitrugen, Menschen als gleichwertig anzusehen." (Buchzitat)
Bezaubernde Zirkuswelt in Bildern
"Die Kulturgeschichte des Zirkus" ist umfangreich, sehr detailgetreu mit manchen gefühlten Doppelungen. Aber: spannend zu lesen. Und vor allem spannend anzuschauen: 140 Abbildungen sind in diesem großformatigen Bildband zu sehen: Fotos von einem traurigen Weißclowns 1909, dem Transport von Zirkuspferden oder Jules Léotard, dem ersten 'fliegenden Mensch' überhaupt: 1865 posiert er wie ein durchtrainierter griechischer Gott im Lendenschurz für den Fotografen. Dazu grellbunte Zirkusplakate aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Autogrammkarten von Artisten. Und Postkarten: zum Beispiel "Die sechs Opfer der Leipziger Löwenjagd am 19. Oktober 1913 und die Wärter des zoologischen Gartens, welche die anderen 2 Löwen in einer Kiste einfingen." (Buchzitat)
Acht Tiere waren aus dem Zirkus erwischt und von Schutzmännern und Feuerwehrleuten niedergemetzelt worden. 165 Einschüsse sollen allein die Wildkatze Abdul durchsiebt haben. Das Foto zeigt die aufgebahrten toten Tiere, mit den uniformierten Wärtern in Reih und Glied hinter ihnen aufgebaut.
Zirkusgeschichte kann man natürlich immer auch als Katastrophengeschichte schreiben, sagt Kirschnick: Brände in den Zelten, schwere Unfälle und Todesfälle in der Manege oder eben die Kollision von Wildtieren mit der Großstadt. Es gelingt Kirschnick, den negativen Aspekten wie Tierquälerei oder Enteignungen von jüdischen Zirkusbesitzern viel Raum zu geben - aber das Bezaubernde, Atemlose, Aufregende der Zirkuswelt dabei nicht zu vergessen.
"Manege frei!"- Die Kulturgeschichte des Zirkus
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Theiss
- Bestellnummer:
- 978-3806227031
- Preis:
- 39,95 €