"Vilhelms Zimmer": Das literarische Vermächtnis von Tove Ditlevsen
Die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen hatte die Gabe, das Unglaubliche wahrzunehmen und es zu zeigen. Mit genüsslicher Wildheit zeigt sie in ihrem letzten Roman alles, was sie kann.
In den vergangenen Jahren wurde das Werk der 1917 geborenen dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen durch die hervorragenden Übersetzungen von Ursel Allenstein hierzulande neu entdeckt. Ihren Weg vom Mädchen aus der Arbeiterklasse zur rebellischen Künstlerin zeichnet sie in der "Kopenhagen-Trilogie" nach. Manche lesen sie deshalb als Vorreiterin der soziologisch ausgerichteten Autofiktion von Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Dass diese Schublade aber viel zu eng ist für die trotzige Prosa von Tove Ditlevsen beweist vor allem ihr letzter Roman "Vilhelms Zimmer", der 1975, ein Jahr vor ihrem Selbstmord erschienen ist und jetzt in der deutschen Übersetzung vorliegt.
Der Zerfall einer Ehe
Die 51-jährige Schriftstellerin Lise Mundus ist nach der Trennung von ihrem Mann Vilhelm nicht zum ersten Mal in der Psychiatrie. Mit Kratzspuren im Gesicht erholt sie sich vom Finale einer Hassliebe. Vilhelm, Zeitungsredakteur, gönnte seiner Frau Talent und Erfolg nicht. Lise musste sich mit seinen Geliebten prügeln und wurde von ihm beschimpft als "Dänemarks ältester Teenager". Wie es sich für einen Teenager gehört, lässt Lise sich in der Psychiatrie nicht zur Vernunft herunterdimmen, sondern schaltet eine Kontaktanzeige in der Zeitung, für die Vilhelm arbeitet:
Nachdem ich einer langen, unglücklichen Ehe entkommen bin, fühle ich mich einsam in dieser Welt, in der alle einen Partner haben. Ich bin 52 Jahre alt, 172 cm groß, schlank und blond. Ich habe eine 8-Zimmer-Wohnung in Kopenhagen und ein schönes Sommerhaus. An Geld fehlt es mir nicht, aber an Liebe. Ich habe mir einen Namen in der Literatur gemacht, aber was hilft das, wenn ich einen treuen und liebevollen Freund im passenden Alter vermisse, am liebsten jemanden mit Auto. Leseprobe
Der 20 Jahre jüngere Kurt zieht in "Vilhelms Zimmer" ein. Er leistet Lise und ihrem Sohn Gesellschaft, trägt Vilhelms Anzug und verkommt zu einer lebendigen Requisite. Obwohl Lise und Vilhelm sich im Laufe des Romans kein einziges Mal begegnen, ist das ganze Buch, ein Dialog zwischen ihnen.
Tove Ditlevsen erzählt multiperspektivisch. Sie schickt eine Ich-Erzählerin ins Rennen, die auf magische Weise in einem Moment mit Lise Mundus verschmilzt, dann wieder konsequent Abstand nimmt. Vilhelm und Lise werden erzählt über die Zuschauer ihres Dramas: durch die Augen der Haushälterin, der abgelegten Geliebten. Offenlegen und Beschauen von Intimität sind Thema. Nach der Kontaktanzeige veröffentlicht Lise eine Serie über den Zerfall ihrer Ehe in der Zeitung:
Es fällt ziemlich schwer, eine bestimmte Begebenheit auszumachen, die für Vilhelm und mich zur endgültigen Katastrophe führte. Das wäre so, als würden Kinder mit geschlossenen Augen einen Globus drehen und den Finger auf einen zufälligen Ort legen, eine Insel im Pazifik beispielsweise, und an eine geheimnisvolle Verbindung mit ihrem künftigen Schicksal glauben, wenn sie mehrmals hintereinander darauf landeten. Leseprobe
Tove Ditlevsen schreibt mit genüsslicher Wildheit
Diese Szenen einer Ehe sind herrlich, zum Beispiel, wenn Lise beschreibt, wie beide eine Psychoanalyse machen und die Meinungen ihrer Analytiker das Zusammenleben noch mehr vergiften. Tove Ditlevsens intelligenter Humor gibt der Todessehnsucht ihrer Heldin etwas sehr Reales. Lise hat keine Lust mehr zu leben. Mit kindlicher Klarheit nimmt sie Abschied.
Tove Ditlevsens Sätze werden dirigiert von der Weisheit ihres inneren Kindes. Ihr Schreiben ist verwandt mit dem von Tom Kristensen und Astrid Lindgren. Nächtliche Straßen sind "glatt und glänzend wie Aale", über Kurt heißt es einmal:
Im Nachhinein meint sie, sein braunes Haar hätte so tief in die Stirn gehangen, dass es aussah, als würde es von den Augenbrauen abgestützt. Leseprobe
Ursel Allenstein legt im Nachwort offen, Tove Ditlevsen habe in diesem Buch nur noch schreiben wollen, worauf sie Lust habe. Mit genüsslicher Wildheit zeigt sie alles, was sie kann. Zusammengehalten wird die Geschichte von der Klugheit des Gefühls. Am Ende weiß Vilhelm, dass Lise sich umbringen will. Er macht sich auf den Weg.
"Die Wirklichkeit ist einfallslos und zugleich unglaublich", heißt es im Buch. Tove Ditlevsen, die sich ein Jahr nach Erscheinen das Leben genommen hat, hatte die Gabe, das Unglaubliche wahrzunehmen und es zu zeigen. "Vilhelms Zimmer" ist ein Geschenk.
Vilhelms Zimmer
- Seitenzahl:
- 206 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
- Verlag:
- Aufbau
- Preis:
- 22 €