Tea Coffee Cappuccino
Der ukrainische Fotograf Boris Mikhailov gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Fotografen. Er hielt den Zusammenbruch der UdSSR fest. In Reportagen dokumentierte er, dass die Versprechungen des Kapitalismus längst nicht für alle gelten. Auch sein neuester Bildband "Tea Coffee Cappuccino" wahrt den kritischen Blick auf die Wirklichkeit. Anette Schneider hat ihn angesehen.
Boris Mikhailov: "Der Zusammenbruch des Staates war auch ein Zusammenbruch der Zivilisation."
Das erklärte der Fotograf vor einigen Jahren in einem Interview. Seit 1990 hält er fest, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit dem Sieg eines entfesselten Kapitalismus in seiner einstigen Heimat geschieht.
Boris Mikhailov: "Es ist ein völlig neuer Mensch entstanden, ein neuer Typus, mit zerbrochenem Gesicht, wie man es bisher nur aus den ärmsten Regionen der Welt kannte."
Diese Menschen - Spielbälle eines Systems, in dem sich alles um Profit dreht - fotografiert Boris Mikhailov.
Boris Mikhailov: "Meine Aufmerksamkeit zielt auf das Gewöhnliche und Alltägliche."
Er begann mit Serien über Straßenkinder und Obdachlose. Als er Obdachlose auch nackt fotografierte, reagierten viele Bürger empört.
Boris Mikhailov: "Das war unvermeidlich."
Weil, wie Mikhailov damals erklärte, sie in ihren Lumpen niemand beachtete. Man sah durch sie hindurch.
Boris Mikhailov: "Erst durch die Nacktheit habe ich sie wieder sichtbar gemacht."
Als das Leben ging
Mikhailovs neuester Band "Tea Coffee Cappuccino" versammelt Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. Er zeigt Menschen an Busbahnhöfen, Straßenbahnhaltestellen und großen Kreuzungen. Einst waren es Orte quirligen Lebens. Doch nachdem Fabriken, Büros und Läden geschlossen, und die Straßenbahnlinien eingestellt wurden, entstanden dort Brachen.
Mittendrin: Menschen. Bettler und Obdachlose. Aber auch Leute in ordentlicher Kleidung, die bei jedem Wetter an immer demselben Platz sitzen oder stehen.
Boris Mikhailov schreibt dazu in seinem leider nur kurzen Nachwort: (Zitat)
Diese Menschen, die durch die schweren Neunzigerjahre gegangen waren, hatten sich gleichsam nach einem Schiffbruch noch an Land retten können und waren in einer neuen Zeit "ausgesetzt" worden.
Müde, oft alt und krank, waren sie irgendwie in einer Haltung endlosen Wartens erstarrt. Das war der auf die Obdachlosen folgende, schutzlos ausgelieferte Teil der Bevölkerung, die nächste "Risikogruppe".
Gesellschaft im Wandel
Dann fällt sein Blick auf all die, die versuchen, sich mit "Geschäften" über Wasser zu halten: Verkäuferinnen vor ihrem Kiosk. Fliegende Händler. Junge und alte Menschen, die große Plastiktaschen durch die Straßen schleppen, auf Parkplätzen oder am Straßenrand Gemüse verkaufen, Kosmetik und Kleidung, Tee, Kaffee und Cappuccino.
Boris Mikhailov: "Es gibt zunehmend mehr Menschen mit großen Taschen, es gibt sie überall. (...) Da ist sozusagen eine neue Klasse entstanden: die "Klasse der kleinen Eigentümer und Privatunternehmer".
Mikhailov fotografiert auch Passanten: tatenlose junge Männer am Straßenrand, müde Heimkehrer von der Arbeit, ein Paar, das sich umklammert, als würde gleich die Welt untergehen.
Früher war's besser, oder?
"Mehr als die Hälfte der Russen wünscht sich die UdSSR zurück", titelte kürzlich die "Süddeutsche Zeitung". Boris Mikhailovs neues Buch zeigt, warum dies so ist.
Boris Mikhailov: "Die Dokumentation der Wirklichkeit, die sich in dieser Serie ausdrückt, kann, wie mir scheint, als Dokument dieser Zeit angesehen werden. Ich wollte herausfinden, ob man mittels Dokumentaraufnahmen ein umfassendes Bild der Zeit - ein Historienbild - schaffen kann."
Mikhailov kann.
Tea Coffee Cappuccino
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Buchhandlung Walther König, 240 Seiten mit 200 ganzseitigen Farbfotos
- Bestellnummer:
- 978-3865608772
- Preis:
- 58,00 €