"Mit Herz und Mund und Tat und Leben": Erinnerungen von Jürgen Flimm
Schon lange vor seinem Tod waren die Erinnerungen des Theaterintendanten Jürgen Flimm angekündigt - jetzt sind sie posthum unter dem von Bach entliehenen Titel "Mit Herz und Mund und Tat und Leben" erschienen.
Am 4. Februar jährt sich der Todestag von Jürgen Flimm zum ersten Mal. Jürgen Flimm, legendärer Intendant des Hamburger Thalia Theaters, danach noch in gleicher Funktion bei den Salzburger Festspielen und an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Ein Theatermann, ein Opernliebhaber, ein temperamentvoller Strippenzieher.
Ein Junge mit viel Sinn für Dramatik
Schon als Knirps begegnete Jürgen Flimm der Musik von Johann Sebastian Bach. Mit der Straßenbahn fuhr er mit der geliebten Großmutter zum Konzert: Günter Wand dirigierte in Köln die Matthäus-Passion. Die Karten hatte der Onkel besorgt und die Großmutter schrieb diesem danach:
"Der Kleine liebt die Passion sehr und besonders die Dramatik. Du bereitest ihm eine große Freude, er will dir auch eine Karte schreiben." Leseprobe
Für Dramatik hatte also schon der Junge einen Sinn, auch das Theater lernte er früh kennen - der Vater war Theaterarzt. Später studierte Flimm in Köln Theaterwissenschaft, hier sammelte er auch erste praktische Erfahrungen als Schauspieler und Regisseur. 1979 wurde er schließlich Intendant des Kölner Schauspielhauses.
"Flimm hat den ganzen Tag im Theater verbracht"
Jürgen Flimm war eine Doppelbegabung, sagt Sven-Eric Bechtolf. Er hat das Vorwort zu den Erinnerungen geschrieben. "Es gibt so einen kleinen Filmausschnitt von ihm, da spielt er eine kleine Rolle und muss sehr rumbrüllen. Da sieht man sofort, dass er begabt ist", erzählt Bechtolf.
Auch deshalb habe Flimm einen Blick für Schauspieler gehabt und deren Begabung. Sven-Eric Bechtolf traf er 1982 erstmals in Bochum. Mitte der 1980er-Jahre holte er ihn ans Thalia Theater und ermöglichte ihm später dort erste Regiearbeiten: "Jürgen war da am Höhepunkt seiner Kraft und auch seiner Möglichkeiten", sagt Bechtolf. "Er hat Raubbau getrieben an sich selber, den ganzen Tag im Theater verbracht, von morgens bis Mitternacht. Wir waren angesteckt von dieser Leidenschaft, es wurde verrückt gearbeitet."
Jürgen Flimm erzählt wie im Rausch
Flimm nennt die 15 Jahre seiner Intendanz am Thalia Theater eine "erfüllte Zeit". Nach dem Abschied, schreibt er, sei er in ein tiefes Loch gefallen. Doch es ging weiter, es folgten Intendanzen bei den Salzburger Festspielen, der Ruhrtriennale, der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Wie im Rausch erzählt Jürgen Flimm sich durch sein Leben, und oft wirkt es so, als sei ihm nicht mehr genug Zeit geblieben, all die Erfahrungen und Begegnungen zu ordnen, die ihn geprägt und bewegt haben. Hanns Schweikart, Fritz Kortner, Nicolaus Harnoncourt, Cecilia Bartoli, Boy Gobert, Ingrid Andree, Bob Wilson, Vanessa Redgrave, Daniel Barenboim - unmöglich allein die Namen zu zählen, die er wie selbstverständlich fallen lässt. Insiderwissen ist bei der Lektüre nicht von Nachteil, Passion Bedingung.
Die Leidenschaft von Jürgen Flimm spricht aus fast jeder Zeile, auch der Witz, ja die Gerissenheit des Strippenziehers, der gern unkonventionelle Wege einschlug, um seine Interessen durchzusetzen. Manch hübsche Anekdote findet sich hier.
Eine letzte Inszenierung konnte wegen der Pandemie nicht mehr wie geplant herauskommen. Sven-Eric Bechtolf hätte mit Martina Gedeck in "Gefährliche Liebschaften" am St. Pauli Theater spielen sollen. Bechtolf traf Jürgen Flimm zuletzt im Krankenhaus: "Da hat er mir drei ziemlich lange Geschichten erzählt, die alle in Italien spielten und verrückten Inhalts waren: Liebesgeschichten, Krimis und ich weiß nicht was. Seltsame Dinge, die er sich ausdachte, damit ihm nicht fad wird. Das habe ich wahnsinnig bewundert, das fand ich so unglaublich, dass er da lag und immer noch künstlerisch tätig war. Zurückgeworfen aufs Letzte."
Mit Herz und Mund und Tat und Leben
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-05480-4
- Preis:
- 26 €