"Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" von Doris Knecht
"Ich wollte einmal ein heiteres Buch schreiben", sagt die österreichische Schriftstellerin Doris Knecht zur Begründung ihres neuen Romans "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe".
In einem alten Witz, den sich Theologen gern erzählen, diskutieren ein katholischer Pater, ein evangelischer Pfarrer und ein Rabbi über die Frage, wann das menschliche Leben beginne. "Wenn sich Vater und Mutter in Liebe zusammentun", sagt der Pater. "Wenn die Samen- und die Eizelle miteinander verschmelzen", sagt der Pfarrer. Aber der Rabbi wischt das alles beiseite und meint: "Das menschliche Leben beginnt, wenn der Hund tot ist und die Kinder aus dem Haus sind."
Eine Frau am Wendepunkt
Bei Doris Knecht ist und bleibt der Hund zwar ständiger (und nebenbei: extrem liebenswürdiger) Begleiter der Erzählerin, aber der Auszug der Kinder steht bevor - ein heftiger Einschnitt im Leben von Eltern, hier: im Leben einer alleinerziehenden Mutter. Ein Einschnitt, der kaum je von der Literatur thematisiert wird. Als "Beginn des menschlichen Lebens" sieht die Mutter diese Zäsur einstweilen nicht, sondern als dramatische Veränderung. Denn wenn ihre Kinder, die Zwillinge Mila und Max, weg sind, entlassen ins erwachsene Leben, wird sie ihre dann viel zu große Wohnung aufgeben und eine bezahlbare kleinere finden müssen - ein Wahnsinn natürlich auf dem Wohnungsmarkt in Wien wie ja auch überall sonst.
Mit Ende 50 muss sie sich fragen: Ist sie also fundamental gescheitert in einer Gesellschaft, die auf Wachstum ausgerichtet ist, nicht auf Reduktion? Ist sie endgültig eine Verliererin? Sie sortiert ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Erinnerungen - was bleibt denn eigentlich noch?
Von wem die Geschichte erzählt wird: von einer Überempfindlichen. Von einer, die immer mehr spürt als andere, mehr Schwingungen aufnimmt, und meistens überlappen die negativen die guten. Der Blick ist voller Misstrauen. Oder vielleicht auch voller Abgebrühtheit oder Realismus. Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben. Leseprobe
Verschwommene Erinnerungen
Die Sache mit der Erinnerung, sie ist heikel und im Grunde hochdramatisch: Die Erzählerin stellt fest, wie viel sie von dem, was einmal wirklich wichtig zu sein schien, entweder völlig vergessen oder, anscheinend, fehlerhaft abgespeichert hat. Was hat dann aber überhaupt noch Bedeutung im überschallschnellen Vorbeirauschen der Jahre?
Ich hatte mal eine E-Gitarre. Ich hatte einmal Goldfische. Ich hatte einmal einen Schweden zum Freund. Ich fuhr mal einen alten VW-Bus, als ich Anfang zwanzig war, damit sammelte ich meine Freunde ein, und wir fuhren auf Festivals. Ich war mal mit einem schönen, langhaarigen Mann zusammen, der ein Motorrad hatte mit einer Frauenhand aus Bronze, die den Tacho hielt. Ich machte meinen Führerschein mit fünfunddreißig und erst mit fünfundvierzig konnte ich ordentlich fahren. Ich war mal in Norwegen, mit vierzehn, als Au-pair, einen Monat lang, aber vielleicht war es auch Dänemark. Es ist egal. Es ist alles so oder so nicht mehr wahr. Leseprobe
Die Spuren der Vergangenheit sind unkenntlich geworden. Vielleicht aber gelingt die Versöhnung mit der Gegenwart.
Der Beginn lässigen Lebens
Tatsächlich findet die Erzählerin eine Lösung für ihr Wohnungsproblem, eine überraschende, auch eine überraschend beglückende Lösung. Natürlich: Wenn die Kinder zu Besuch kommen - die ja auch verwinden müssen, dass der Ort, an dem sie aufwuchsen, nicht mehr da ist -, haben sie schon noch einiges zu meckern:
"Deine Wohnung ist irgendwie unpersönlich", sagt Max, "so ein bisschen wie ein Skandi-Airbnb."
"Hilf mir!", sag ich zum Hund, der auf dem Teppich liegt und sich ungerührt sein Geschlechtsteil leckt.
"Alles so beige", sagt Mila.
"Erstens ist das nicht beige", sage ich, "das ist greige." Ich weiß selbst, wie traurig das klingt.
"Früher war alles bunt bei uns", sagt Max.
"Ja, früher wohnte ich auch in einer Kinderwohnung", sage ich. "Jetzt darf ich endlich leben wie eine Erwachsene."
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Das ist vielleicht, anders als im Witz, nicht der Beginn menschlichen Lebens schlechthin, aber es ist ein belebender Neubeginn. Doris Knecht erzählt davon mit genau der richtigen Mischung aus sanfter Traurigkeit und unpathetischer Hoffnung - und sowieso sehr elegant. Ja: Dies ist der Beginn lässigen Lebens.
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27803-5
- Preis:
- 24 €