"Die Schatten von Prag": Viel mehr als ein historischer Krimi
Martin Becker hat sich mit seinen autofiktionalen Romanen einen Namen gemacht. Nun begibt er sich auf ein völlig neues Terrain. Für seinen ersten Krimi hat er sich Unterstützung bei seiner Schriftstellerkollegin Tabea Soergel geholt.
Prag 1910. Der alte Zöllner Karel Novák begibt sich zur Franzensbrücke, seinem Arbeitsplatz. Schon auf den ersten Seiten wird klar: Wem auch immer wir im Laufe dieser Geschichte begegnen werden, die Stadt Prag ist eine der zentralen Protagonistinnen dieses Romans.
Auf dem Weg zur Arbeit suchte Novák wie üblich den Himmel ab. Der Johannesburger Komet hatte vor einigen Tagen seine maximale Helligkeit erreicht. Man sah seinen Besuch allerdings nur als Vorboten des eigentlichen Unglücks: Die Erde, so wurde gemunkelt, würde im Frühjahr den gewaltigen Blausäureschweif des Kometen Halley passieren und darin vergehen. Ganz Prag starrte seit dem Jahreswechsel also nach oben und verlor den Boden unter den Füßen. Leseprobe
Mit jedem Toten wächst die Bedrohung
Und dann lernen wir den jungen Kisch kennen, der eine gewisse Ähnlichkeit hat mit der historischen Person Egon Erwin Kisch, der später "als rasender Reporter" zu Ruhm und Ehre kommen sollte. Kisch ist gerade Mitte 20, arbeitet als Polizeireporter bei der "Bohemia" und ist bestens vernetzt mit allen möglichen Prager Informanten: aus Verbrecherkreisen, aus dem Nachtleben, bei den Prostituierten, bei Botenjungen und der Polizei. Eine gute Freundin von ihm, Lenka Weißbach, hat gerade eine lesbische Liebesbeziehung in Berlin abgebrochen und ist nach Prag zurückgekehrt. Als die erste Leiche, ein gewisser Dr. Leidinger, ein Beamter der Arbeiter-Unfallversicherung, auftaucht, hilft sie ihm bei den Recherchen:
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Versicherungsgebäudes, und die Angestellten strömten heraus. Einer von ihnen blieb vor ihnen stehen, hager mit großen, abstehenden Ohren und so braun gebrannt, als käme er gerade aus den Winterferien. Als Kisch auf ihn zutrat, legte der Mann den Kopf neckisch zur Seite und sagte: "Herr Redakteur, ich bin hocherfreut, Sie so munter anzutreffen." "Der Feierabend ist der beste Freund des Angestellten, erst recht, wenn er täglich so früh eintrifft", erwiderte Kisch, und die beiden Männer lachten. (…) "Lenka, darf ich dir meinen Freund Franz vorstellen", sagte er. "Lenka Weißbach, sehr angenehm." "Kafka, das Vergnügen ist ganz meinerseits." Leseprobe
Von diesen überraschenden Begegnungen gibt es einige in diesem Kriminalroman, der so viel mehr ist als ein Krimi. Immerhin lebte damals auch noch Jaroslav Hašek, der Autor des "braven Soldaten Schwejk", in der Moldau-Metropole. Auch ihm begegnen wir manches Mal im Prager Nachtleben. Und mit jedem weiteren Toten wächst das bedrückende Gefühl, dass die Bedrohung nicht nur das Leben in Prag bedroht, sondern noch viel mehr. Wiederholt beschreibt das Autoren-Duo, was damals in den Zeitungen berichtet worden ist und weitet dadurch den Horizont:
Und die Moldau schwoll an und zog sich wieder zurück und schwoll wieder an, als sei sie ein langsam atmendes, uraltes Lebewesen. Und unterhalb der der Palacky-Brücke zogen Kanalräumer die Leiche einer Frau aus dem Wasser (…) Und in Wien starb der amtierende Bürgermeister und fanatische Judenhasser Karl Lueger unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit an den Folgen seiner Zuckerkrankheit. Und in einem Bach bei Königgrätz wurde die zerstückelte Leiche einer jungen Näherin gefunden. Leseprobe
Eine Welt im Umbruch
Mit "Die Schatten von Prag" geben Tabea Soergel und Martin Becker ein sehr genaues Bild von der Atmosphäre um 1910, einer Welt im Umbruch, geprägt von fanatischem Nationalismus und um sich greifendem Antisemitismus. Die Verbrechen erscheinen dabei wie das Symptom einer Krankheit, dessen Ursache viel tiefer sitzt. Wenn wir mit Kisch und Lenka in die Nachtspelunke Batignolles einkehren, mit Bier, Schnaps und Gelächter die Sorgen bis zum Morgengrauen vertreiben, mit dabei sind, wie Kisch das Tanzbein schwingt, dann möchten wir, dass es niemals aufhört, dass die schlechten Nachrichten einfach mal draußen bleiben. Aber dann geht es schon wieder weiter. Kisch löst seinen ersten Fall. Aber ohne Lenka hätte er es nicht geschafft. Möge sie bitte auch beim zweiten Fall wieder dabei sein!
Die Schatten von Prag. Kischs erster Fall
- Seitenzahl:
- 312 Seiten
- Genre:
- Krimi
- Verlag:
- Kanon
- Bestellnummer:
- 978-3-98568-124-2
- Preis:
- 24 €