China - Porträt eines Landes
Denken wir an China, beschäftigen wir uns mit dem offenbar willkürlich inhaftierten Künstler Ai WeiWei oder dem nach Berlin geflohenen Schriftsteller Liao Yiwu. Will man die gesellschaftlichen Umbrüche und vermeintlichen Ungerechtigkeiten von heute verstehen, muss man in die jüngere Geschichte des Riesenreiches eintauchen. Der Bildband "China - Porträt eines Landes" macht das möglich. Martina Kothe hat ihn angesehen.
"Wir alle sind Chinesen", singt Andy Lau in einem Lied. Komponiert wurde es 1997 zur Übergabe Honkongs zurück an die Volksrepublik China. Das Beschwören einer Gemeinschaft von über einer Milliarde Menschen, mit 55 anerkannten ethnischen Minderheiten - einer Bevölkerung die enorm Reiche und erschreckend arme Schichten aufweist, zeigt bereits eines der größten Probleme der Volksrepublik: Das Land in seinen Widersprüchen ist sowohl für die Chinesen selbst, umso mehr für einen westlichen Beobachter, kaum zu begreifen.
Faszination im Alltagsgeschehen
Der Herausgeber des Bandes, der Fotojournalist und Pulitzer-Preisträger Liu Heung Shing, legt Wert auf eine ausführliche Erklärung der chinesischen Sicht auf die Kunst der Fotografie - so waren die meisten Fotografen auf stilisierte Portrait- und Landschaftsfotos spezialisiert. Diese, stark an die Tuschmalerei angelehnten Motive wurden nur langsam von ausländischen Fotografen erweitert, die zeigten, dass auch in vermeintlich oder tatsächlich kargen, ärmlichen oder düsteren Alltagsszenen ein fotografischer Zauber liegen kann.
Im Bildband "China" entfaltet sich dieser fotografische Zauber bereits auf dem Umschlagbild. Das Farbfoto zeigt einen alten Mann in einer für unsere westlichen Augen grotesk anmutenden weißen Unter- oder Badehose, die er bis unter die Brust hochgezurrt hat. Er sitzt in einem Korbstuhl am Strand, zeigt mit dem Zeigefinger auf einen für unsere Augen unsichtbaren Gesprächspartner, als wolle er ihm etwas klarmachen. Trotz seiner ungewöhnlichen Aufmachung strahlt der Mann Autorität aus. Aus dem geöffneten Mund könnte ein Satz kommen wie: "hört mir zu", oder " Ich werde euch jetzt etwas erzählen". Ein ideales Foto für ein Buchcover also.
Dokumente einer Gesellschaft im Wandel
Der Band verdeutlicht den Wandel und die Umbrüche in der Geschichte Chinas von 1949 - bis 2008. So legen die ersten Bilder ein schwarz-weißes Zeugnis ab von dem Leid der Menschen - von dem Aufbruch, der mit Mao für viele verbunden war. Ihn, den großen Vorsitzenden, finden wir auf vielen Fotografien von Hou Bo. Der 1924 geborenen Fotografin haben wir Schätze, wie die Dokumentation von Maos Bad im Jangtse zu verdanken - ein eindrucksvolles Bild, das nur seinen markanten Kopf zeigt, umgeben von grauen Wassermassen.
Eine Doppelseite zeigt Familien. Zwischen Vater und Mutter sitzt vor rotem Hintergrund ein Kind. Es sind begüterte Familien der neuen Mittelschicht, die sich mit ihren Sprösslingen in der Schule haben ablichten lassen. Alle sind sie sichtbar stolz auf den Nachwuchs. Auf der nächsten Doppelseite sitzen Menschen in Verschlägen. In Schwarz-Weiß abgebildete Wanderarbeiter, 13 Leute, Männer und Frauen die auf engstem Raum hausen - die Gesichter der Kamera zugewandt, der Ausdruck abgeklärt. Manche blicken stoisch, andere traurig, wieder andere voller Trotz.
Bilder aus dem Reich der Mitte
So gelingt es dem Fotoband ohne viele Worte, einem das unendlich große Reich mit seinen mannigfachen Problemen in Vergangenheit und Gegenwart, aber auch mit seinem kulturellen Reichtum, näher zu bringen. Ein Buch, das manche Geschichtsstunde ersetzen könnte und das ästhetisch eindrücklich Zeugnis ablegt von der Kunst der Fotografie.
China - Porträt eines Landes
- Seitenzahl:
- 424 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Taschen, 424 Seiten
- Bestellnummer:
- 978-3-8365-3089-7
- Preis:
- 19,99 €