"Autochrome" und "The Color of Life": Reise in die Vergangenheit
Heute sind bunte Schnappschuss-Bilder nichts besonderes - vor hundert Jahren schon. Zwei Verlage haben sich mit der Frühzeit der Farbfotografie beschäftigt und zwei unterschiedliche Bildbände herausgebracht.
Wir schreiben das Jahr 1903. Die Brüder August und Louis Lumière haben acht Jahre zuvor den Cinematographen erfunden und gelten als die Väter des Kinos. Nun kommen sie mit einem Verfahren um die Ecke, mit dem man Momente des Lebens auf Glasplatte festhalten kann - in Farbe. Genannt: Autochrome-Fotografie. Waren Bilder bisher nur in schwarz/weiß zu haben, gelingt es den Brüdern jetzt, die Welt "natürlich", farbig abzulichten.
Autochrome aus oberösterreichischer Sammlung
Die Autochrom-Sammlung des Oberösterreichischen Landesmuseums zählt mittlerweile mehr als 1.000 Bilder. Viele kommen aus privaten Sammlungen. Der Verlag teNeues hat für seinen Bildband rund 150 Fotografien ausgewählt. Mit ausführlichen Begleittexten zu dem Verfahren, den Darstellungen und den Personen tauchen wir ein in die Anfänge der Farbfotografie.
Da sehen wir zum Auftakt eine junge Frau mit weitem beigen Hut, roter Bluse und einem bis zum Brustkorb gebundenen, grünlich gemusterten Wickelrock. Das Aha-Erlebnis bleibt allerdings da noch aus. Könnte es doch eine Aufnahme aus den 30er- oder 40er-Jahren sein. Auch beim nächsten Bild, einer pixeligen, mit einer roten Tora bekleideten Frau auf einem Stuhl, stellt sich die Bewunderung für diese einmaligen Bilder noch nicht ein. Aber das wird. Wir sehen Dorfaufnahmen, Gebirgszüge, Stadtansichten, Stillleben, Sonntags-Schnappschüsse und viele Porträts.
Historische Aufnahme atmen eine andere Zeit
Vor allem die Bilder der Lumières selbst verblüffen - allein durch ihre historische Bedeutung. Sie alle atmen eine andere Zeit. Die Kleidung, die geduldige Haltung und die Architektur. Wäre dieses Buch eine Schallplatte, würde es ordentlich knistern und rauschen. Die Stärke der Bilder liegt in ihrer Authentizität. Sie könnten fast aus den alten Fotoalben der Großeltern stammen - mit dem Unterschied, dass diese Bilder hier nicht bearbeitet wurden.
Sie wirken leicht blass, teilweise farb matt. Und damit sind wir auch schon beim großen Unterschied zum zweiten Buch. "The Colors of Life" heißt es und ist im gestalten-Verlag erschienen. Es zeigt Autochrome, die durch die Finger des Multimedia-Künstlers Stuart Humphryes gegangen sind.
"The Colors of Life" erschreckenderweise modern
Humphryes restauriert verblichene oder schadhafte Platten. Er gibt ihnen eine kleine Schönheits-OP und so strahlen seine rund 200 Bilder im Buch kräftiger, satter, schärfer, farbechter und erschreckenderweise oft moderner. Zum Beispiel die weißgekleidete Nonne, die mit einem weißen Täubchen in den Händen in einem Kreuzgang sitzt - als ob es gestern wäre. Wir sehen den Bildhauer August Renoir in seinem Atelier vor seiner Skulptur Eve stehen, als hätte ein Assistent ihn für einen frischen Instagram-Post fotografiert. Und der Schriftsteller Lew Tolstoi sitzt als griesgrämiger alter Mann auf einer Parkbank und schmollt vor sich hin - wie aus einem Street-Photography-Magazin.
Beide Bücher wuchten uns einhundert Jahre in die Vergangenheit. Beide lassen uns eine vergessene Zeit wiedererleben und beide Bücher halten ein fotografisches Erbe aufrecht - auf ihre Art. Faszinierend, wenn man die Magie von alten Fotoalben liebt und die Geschichten hinter den Bildern kennt oder sie in der Fantasie zum Leben erweckt. Wenn nicht, sind es nur alte Farbfotos - allerdings mit viel, sehr viel Charakter.