"1974 - Eine deutsche Begegnung": Viel mehr als ein Fußball-Buch
Der Sportjournalist und Buchautor Ronald Reng hat das legendäre Fußballspiel am 22. Juni 1974 in Hamburg zwischen der DDR und der BRD zum Anlass genommen, auf ungewöhnliche Spurensuche zu gehen.
Seit Jahrzehnten treffen sich alle zwei Jahre entweder die besten Nationalmannschaften Europas zu einer EM - wie in diesem Jahr in Deutschland, oder gleich die Besten aus aller Welt zu einer WM - wie 1974 im damaligen westdeutschen Teil des geteilten Landes. Und wie es der Zufall wollte, trafen vor 50 Jahren das erste und einzige Mal die Nationalmannschaften der DDR und der Bundesrepublik aufeinander.
Eigentlich dürfte seit fünf Jahrzehnten alles über dieses eine Fußballspiel geschrieben worden sein. Ronald Reng wollte allerdings ein Experiment wagen: "Kann man an einem einzigen Fußballspiel, an einem einzigen Tag, versuchen, eine ganze Zeit einzufangen? Zu beschreiben, was in den beiden deutschen Staaten damals wichtig war? Ich habe Menschen gesucht, die in irgendeiner Art eine Verbindung zu dem Spiel hatten. Sei es ein RAF-Terrorist, der beschuldigt wurde, ein Attentat auf dieses Spiel zu planen. Seien es Theaterschauspieler am Deutschen Theater in Ostberlin, die an dem Abend "Die neuen Leiden des jungen W." spielen mussten und deswegen das Spiel nicht schauen konnten."
Bemerkenswerte Episoden aus der deutsch-deutschen Geschichte
Und so erfährt der Leser von der Schauspielerin Jutta Wachowiak, die damals als "Charlie" in dem Stück auf der Bühne stand, dass die fußballbegeisterten Theaterschauspieler darüber sauer waren, dass sie eben nicht an jenem Sonnabend das Spiel DDR gegen BRD am Fernseher verfolgen konnten. Buchautor Reng dokumentiert zugleich, wie der Roman "Die neuen Leiden des jungen W." 1973 beim Rostocker Hinstorff-Verlag erscheinen konnte: "Wie war es eigentlich möglich, dass dieses Buch von Ulrich Plenzdorf durch die Zensur gekommen ist? Wie hat es der Hinstorff-Verlag mit dem Verleger Konrad Reich und dem Lektor Kurt Batt geschafft, Anfang der 1970er-Jahre durchaus kritische Literatur unter dem Radar der Partei zu veröffentlichen? Man hat auch versucht, dem Hinstorff-Verlag in Rostock massiv ins Literaturprogramm reinzureden."
Für den Leiter des Hinstorff-Verlags Konrad Reich und den Cheflektor Kurt Batt brachen äußerst schwierige Zeiten an, sogar die Rostocker SED-Bezirksleitung mit Harry Tisch mischte sich unrühmlich ein. Es sind solche Episoden aus der deutsch-deutschen Geschichte seit Anfang der 1970er-Jahre, die dieses Buch so bemerkenswert machen.
Eine besondere Stadtführerin für die DDR-Touristen
Wem ist schließlich schon bekannt, dass die erfolgreiche Krimiautorin Doris Gercke, die sich die Polizistin "Bella Block" erdachte, auch am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion saß? "Als die DDR entschieden hatte, dass sie 1.500 ausgewählte 'Touristen' zu dem Spiel schickt, sollten die auch eine Stadtführung in Hamburg machen. Ich habe über die Archive herausgefunden, wer diese Stadtführer waren: Die waren keine normalen Fremdenführer, weil die ja vielleicht was Nettes über Hamburg gesagt hätten", schreibt Reng.
Gewünscht seien Mitglieder der westdeutschen Kommunistischen Partei, der DKP, gewesen, so der Autor: "Da war eine Frau dabei, Doris Gercke, die nur einmal im Leben im Fußballstadion war, um ein Fußballspiel zu sehen. Und sie wollte da gar nicht hin. Aber sie war die Fremdenführerin für die DDR-'Touristen' und die dachten, die tun ihr was Gutes: Komm doch mit ins Stadion!"
Ein Fußball-Trikot für Willy Brandts Sohn
Eine andere Geschichte ist die eines großen Fußballfans, der damals für Günter Netzer schwärmte. Zwar hieß der Bundeskanzler während der WM schon nicht mehr Willy Brandt, doch der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito war eingeladen und hatte ein besonderes Geschenk für den zwölfjährigen Sohn des Ex-Kanzlers, Matthias Brandt, dabei: "Tito wusste offenbar von dieser Fußball-Leidenschaft von Matthias Brandt. Und als er Willy Brandt während der Weltmeisterschaft 1974 besuchte, brachte er Matthias ein Fußballtrikot des jugoslawischen Serienmeisters Partizan Belgrad mit. Matthias Brandt hat es dann auch mit vollem Stolz zum Fußballtraining seines Fußballvereins angezogen und musste merken, dass dieses Trikot schrecklich kratzte. Dann hat er es nie mehr angezogen."
"1974 - Eine deutsche Begegnung": Spannende Lebensgeschichten
Matthias Brandt, Doris Gehrke, Jutta Wachowiak, aber auch Roland Jahn, der letzte Leiter der Stasiunterlagenbehörde, das ehemalige RAF-Mitglied Klaus Jünschke oder der Kenner des australischen Fußballs, André Krüger aus Hannover - mit ihnen und vielen anderen hat Autor Reng für sein Buch "1974 - Eine deutsche Begegnung" gesprochen. Auch einige damals im Spiel eingesetzte Fußballer aus beiden Mannschaften kommen zu Wort.
Diese mit leichter Hand, aber unglaublicher Tiefe geschriebenen rund 400 Seiten sind viel mehr als ein Fußball-Buch. Ronald Reng verbindet spannende Biografien mit dieser einen deutsch-deutschen Begegnung am 22. Juni 1974. Sehr zu empfehlen für alle, die mehr wissen möchten als nur, dass ein Halberstädter in Hamburg sein wohl berühmtestes Tor schoss.
1974: Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte
- Seitenzahl:
- 432 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Piper
- Bestellnummer:
- 978-3-492-07219-9
- Preis:
- 24 €