NDR Buch des Monats Februar: "Tiere, vor denen man Angst haben muss"

Stand: 12.02.2024 06:00 Uhr

Der zweite Roman von Alina Herbing ist - wie ihr Debüt "Niemand ist bei den Kälbern" - eine Art Anti-Idylle. Die Worte der in Lübeck geborenen Autorin sind geschmeidig, einfach und doch bildstark.

von Juliane Bergmann

Im Winter kann Madeleine nichts anderes als frieren. Die Daunenjacke trägt sie auch im Zimmer. Im Stundentakt macht sie sich eine neue Wärmflasche, mit der sie unter die Bettdecke kriecht. Zum Heizen fehlt Kohle. Durch die kaputten Fenster zieht es. Ans Hausaufgabenmachen ist nicht zu denken.

Die Kälte lähmte mich. Sie fror mich ein. Meine steifen Hände. Mein Körper, der sich nicht mehr bewegen, mein Gehirn, das vor Kälte nicht mehr denken konnte. Leseprobe

Alina Herbing beschreibt so, dass auch uns beim Lesen kalt ist. Ihre Worte sind geschmeidig, einfach und doch bildstark. Die Autorin kennt selbst Fremdheitserfahrungen und das Gefühl, nicht richtig anzukommen. Wie ihre Hauptfigur Madeleine ist auch sie damals - kurz nach der Wende - mit der Familie aus dem Westen in ein Dorf im Norden Mecklenburgs gezogen. Im Buch entwickelt sich der antikapitalistische Traum in der Provinzidylle schnell zu etwas Düsterem.

Ein Leben zwischen Katzen, Wildschweinen und Ziegen

Inzwischen ist der Vater gegangen und die anderen Geschwister sind aus dem Haus, das mehr einer Bruchbude gleicht. Geblieben sind die beiden Teenie-Schwestern Madeleine und Ronja, die Mutter und ihre unzählbar vielen Tiere.

"Die Tiere gehen immer vor" - das ist die radikale Devise von Madeleines Mutter. Sie hat eine Auffangstation für Haus- und Wildtiere aufgebaut. Ein Ehrenamt ohne jeden Verdienst. Das Haus haben Hunde erobert, Katzen, Mäuse, Wildschweine, Schwalben, Maultiere, Ziegen, ein Schwan, eine Schleiereule. Dass die Töchter gebissen werden und verängstigt sind, dass sie keinen Platz für sich haben, interessiert die Mutter nicht. "Die Mutter ist eine sehr ambivalente Figur", sagt Alina Herbing. "Sie ist mir selber auch gar nicht so sympathisch, aber ich habe versucht, sie aus den Augen von Madeleine zu sehen, die ihre Mutter natürlich auch liebt. Das ist eine Art von Überlebenswillen, den die Kinder haben. Und damit sind sie ein bisschen gefangen in dieser Liebe zur Mutter und in der Abhängigkeit."

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Alina Herbing © Screenshot
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Alina Herbing konfrontiert uns mit der rohen Natur

Mit Menschen umzugehen, hat die Mutter verlernt, wird Madeleine beim Vokabellernen klar:

Es war schon Jahre her, dass meine Mutter mit uns auf den Berg hinter dem Dorf spaziert war und all die Pflanzen benannt hatte. Traitor - Verräter. Die Welt da draußen sah starr aus. Da war nichts mehr von den wehenden Feldern des Sommers, durch die uns unsere Mutter geführt hatte. Border - Grenze, disrupt - stören. Leseprobe

Erstaunlich nah kommt uns diese suchende, in ihrem Zorn glühende Ich-Erzählerin, die zupackt, während die Erwachsenen nur Ausflüchte suchen. Alina Herbing konfrontiert uns mit der rohen Natur. Der Text hat etwas Sumpfiges, Erdiges, auch Ekeliges: Ratten im Plumpsklo, Hundeurin in der Diele, blutende Bisswunden auf den Kinderhänden. Tiere, vor denen man Angst haben muss?

"In dem Fall ist es eine Bedrohung, dass sich die Kinder nicht mehr sicher und nicht genug geliebt fühlen können und dadurch auch ihre Psyche oder ihre Entwicklung bedroht ist", so Herbing. "Sie müssen ständig zurückstehen. Sie müssen von Anfang schon sehr viel Verantwortung übernehmen und können dadurch gar nicht so Kind sein, wie sie es eigentlich bräuchten."

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Zauberhafte Teenager-Momente

Und gleichzeitig fängt die Autorin kleine, zauberhafte Momente der Schwestern ein, die von Knutschereien mit Robbie Williams träumen, die ihr muffiges Wasser mit Multivitamin-Brausetabletten pimpen und im Quelle-Katalog unerschwingliche BHs auschecken. Und wenn's besonders kalt ist, teilen sie ein Bett.

Wenn dir deine kleine Schwester weinend in den Armen liegt, das wusste ich, darfst du selbst auf keinen Fall auch anfangen zu weinen. Darum musste ich die Tränen hinunterschlucken, was so wehtat, als würde ich versuchen, Nadeln zu essen. Leseprobe

Das Buch verhandelt schlau die Suche nach einem Platz in der Welt, dunkel-samtig und eindringlich.

Das NDR Buch des Monats im Programm

Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Online wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt. NDR Kultur sendet die Rezension am 12. Februar 2024, 12.40 Uhr, NDR Info um 8.55 Uhr. NDR Kultur - Das Journal im Fernsehen berichtet über das Buch am 26. Februar 2024, 22.45 Uhr.

Tiere, vor denen man Angst haben muss

von Alina Herbing
Seitenzahl:
256 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Arche
Bestellnummer:
978-3-7160-2818-6
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 12.02.2024 | 06:40 Uhr

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