"Warten auf Godeau. 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France"
Für Radsportler ist die Tour de France eine mehr als dreiwöchige Tortur auf zwei schmalen Reifen. Wie aber ist es für die Zuschauer? Ein neuer Bildband betrachtet das berühmteste Radrennen der Welt einmal ganz anders.
Warten ist manchmal gar nicht so schlimm. Die Leutchen, die da hübsch aufgereiht vor dem etwas schmuddeligen "Café Boulangerie" mit den - immerhin - strahlendweißen offenen Fensterläden hocken, haben es sich nett gemacht: Fünf offene Bierflaschen und sechs halbgefüllte Gläser stehen auf dem vorderen Klapptisch, an dem sich ein paar verstrubbelte Kerle in kurzen Hosen neben einer jungen Frau im leichten Sommerkleid zusammendrängen. Feuerzeug, Kippen, Sonnenbrillen liegen parat. Gleich nebenan am Nachbartisch sitzen ganz bequem sechs ältere Herren mit Hut oder Mütze und mit geröteten Wangen, wahrscheinlich von der geröteten Flüssigkeit in den kleinen Gläsern vor ihnen auf dem Tisch. Wann kommt denn nun das Hauptfeld vorbeigesaust? Ach egal, Garçon, steh da nicht nutzlos in der offenen Tür herum, bring uns lieber noch mal ‘ne Runde, tout de suite!
Bei der Tour de France kann man was erleben
Dauert’s immer noch? Ein Zebrastreifen an der Minikreuzung in der Gemeinde Valréas, Departement Vaucluse. Der ganze Ort ist auf den Beinen, alle stehen sie gegenüber am Straßenrand, Männer, Frauen, Kinder: Ein ganz kleines in einer Karre leckt ein Eis, zwei Experten studieren eine Sportzeitung, drei Polizisten in hellblauem Uniformhemd sind Teil der wartenden Menge. Hier vorn auf den vier Stühlen sitzen drei Frauen und ein Schäferhund; die Frauen plaudern, der Hund auf seinem Stuhl schaut stur geradeaus auf die Leute gegenüber, wartend. Und der Typ da oben mit dem Fernglas auf dem Dach des "Café de Paris" scheint auch noch nichts zu sehen.
Noch, nichts. Noch wird gesessen, geplaudert, erinnert. Noch bestimmt Warten das Tun - oder das Nichtstun. Noch herrschen die Leere und die Ruhe der Straße. Niemand ist gekommen wegen der Leere und der Ruhe, doch alle erleben sie.
Das schreibt der Kolumnist Bernhard Flieher in der Einführung zu "Warten auf Godeau".
Bei der Tour de France kann man was erleben, sagen sich die Wartenden an Bordeaux‘ hässlicher Ausfallstraße mit Videothek, Supermarkt und einem mickrigen Bäumchen zwischen Asphalt, Blech und Beton. Nochmal schnell die riesige grüne Papp-Klatschhand hergezeigt. Nochmal kurz die Nachricht auf dem Telefon gecheckt - vielleicht ein Hinweis, welcher Fahrer gerade vorne liegt? Nochmal eben ans Verkehrsschild gelehnt, bevor man gleich wild herumhüpft und die Schaumstoffklöppel wummernd aufeinanderschlägt. Gleich, gleich kommen sie, nur noch kurz warten!
Diese verdammten Steigungen
Auch die nicht ganz zwei Dutzend Nonnen aus dem Monastère de la Consolation in Draguignan warten auf roten Klappstühlen vor der Klostermauer, alle im knöchellangen weißen Gewand mit dem roten Herz auf der Brust, aus dem ein Kreuz emporragt. Eine der Schwestern notiert etwas auf einem Stoß Zettel in ihrem Schoß. Eine andere trägt über ihrer weißen Haube mit weißem Schleier eine rotgepunktete Radrennfahrer-Mütze. Von links oben drängt ein üppig wuchernder Oleander mit rosa Blüten ins Bild, der etwas Schatten spenden könnte - wenn man denn im Garten bliebe. Aber gleich kommen doch die Fahrer, gleich!
Wer wird kommen? Wer wird das Feld führen? Wer lauert im Windschatten? - Wer an der Strecke steht, wartet, trinkt, lernt Menschen von irgendwoher kennen, die auch eine dieser verdammten Steigungen mit eigener Kraft hinauftraten.
Diese verdammten Steigungen von Alpe d’Huez, jede einzelne Kehre gesäumt von unzähligen Begeisterten und Verrückten. Mit Hütchen, mit Mütze, mit Sonnenschirm, mit komplett fehlendem Blick dafür, dass der kleine Bergort selbst mit seinen Betonkastenhotels und geklonten Wintersportferienhäuschen von unfassbarer Hässlichkeit ist.
Sehen - oder selbst gesehen werden?
Und wie nur haben es die Männer in T-Shirt, zu weiten kurzen Hosen und Plastiksonnenbrille mit solchen Plauzen bis auf den wolkenverhangenen Col du Soudet in den Pyrenäen geschafft? Was eigentlich sehen die Massen vom Fahrerfeld, wenn sie sich in den entscheidenden sieben, acht Sekunden, die eine Vorbeifahrt nur dauert, ihre eckigen Digitalkameras vors Gesicht halten?
Oder geht es vielmehr darum, selbst gesehen zu werden? Die drei Burschen im roten und schwarzen Slip zeigen jedenfalls sehr viel Haut: den nackten Oberkörper patriotisch mit der Tricolore bemalt, dafür die Strandhütchen in den jeweiligen Farbtönen rentnergrau, schmutzigbeige und dunkelblau.
Warten auf Godeau. 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 78 farbige Abbildungen
- Verlag:
- Dumont
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-6914-5
- Preis:
- 20 €