Trümmer des abgestürzten Flugzeuges 1986 bei Berlin-Schönefeld © picture alliance / dpa | Chris Hoffmann Foto: Chris Hoffmann

"Trauer unter Kontrolle": Buch über den Flugzeugabsturz 1986 in Berlin

Stand: 24.03.2025 10:25 Uhr

Vor rund 40 Jahren stürzte ein Flugzeug bei Berlin ab. Unter den Opfern: eine Schulklasse aus Schwerin. Ein neues Buch blickt auf die Geschehnisse.

"Wir haben als Passagiere den hier beschriebenen Flugzeugabsturz überlebt. Wir danken allen, die uns damals geholfen haben und allen, die uns heute unterstützen." Diese Sätze stehen auf dem Cover des neuen Buches "Trauer unter Kontrolle". Es beschäftigt sich mit dem Unglück, das am 12. Dezember 1986 viele Menschen erschüttert hat. Eine Maschine aus Minsk stürzte in Bohnsdorf bei Schönefeld ab. An Bord des Flugzeugs befand sich eine Reisegruppe von Jugendtourist, der 27 Schüler einer Oberschulklasse aus Schwerin und drei Begleiter angehörten. Filmemacher Matthias Baerens ist Autor des neuen Buches - ein Gespräch.

Fast 40 Jahre nach dem Absturz: Warum das neue Buch?

Matthias Baerens im Porträt © Matthias Baerens/Georg Hundt Foto: Georg Hundt
Matthias Baerens ist Autor und Filmemacher.

Matthias Baerens: Das hat eine Vorgeschichte: Ich habe ja mal mit einem Kollegen zusammen für den NDR einen Dokumentarfilm gemacht mit dem Titel "Systemversagen". Und bei diesen Recherchen kam mir unglaublich viel Material in die Hände und vor die Augen. Zudem habe ich Geschichten von Leuten gehört, bei denen ich gedacht habe, die muss man eigentlich aufschreiben und richtig gut dokumentieren. Das hat jetzt ein paar Jahre gedauert.

Kannst Du uns eine dieser Geschichte erzählen?

Baerens: Da fallen mir spontan mehrere Geschichten ein. Was ich sehr berührend fand: Vor ein paar Jahren hat sich bei mir zum Beispiel ein Sohn eines der Besatzungsmitglieder aus Minsk gemeldet. Er hat dann tatsächlich für das Buch seine Geschichte aufgeschrieben, was dort in Minsk los war und wie dort getrauert wurde, denn die gesamte Besatzung ist ja auch ums Leben gekommen. So gibt es in dem Buch über 20 Berichte von Zeitzeugen und Betroffenen, die ihre Geschichte aufschreiben. Aber auch Eltern, die Kinder verloren haben, oder Ermittler, die an dem Unfall ermittelt haben.

Weitere Informationen
Das Flugzeugwrack an der Absturzstelle in der Nähe des Flughafens Berlin-Schönefeld (DDR). Am 12. Dezember 1986 wurden bei dem Absturz eines sowjetischen Verkehrsflugzeugs des Typs Tupolew 134 kurz vor der Landung 72 Menschen getötet - darunter 20 Schüler aus Schwerin. © picture-alliance Foto: Chris Hoffmann

Tödliche Klassenfahrt: Flugzeugabsturz im Dezember 1986

Als am 12. Dezember 1986 eine Aeroflot-Maschine bei Berlin abstürzt, sterben 72 Menschen. Darunter 20 Schüler aus Schwerin. mehr

Gab es bei den Recherchen auch Menschen, die das Thema nicht mehr ansprechen wollten?

Baerens: Ja, natürlich. Ich hatte heute gerade ein krasses Telefongespräch. Ich habe den damaligen Oberbürgermeister von Schwerin angerufen, Dr. Helmut Oder. Den habe ich die letzten Jahre immer mal wieder angerufen. Er hat damals auf dieser Trauerfeier in Schwerin die Rede gehalten und musste das alles mit den Beerdigungen und den Familien organisieren. Ich habe ihn gefragt, ob er nochmals über dieses Thema reden möchte? Und es kam wieder die ganz klare Antwort: Nein, ich will nicht. Das finde ich total schade an der Stelle.

In dem Buch hat ein relativ hochgestellter Ermittler der Staatssicherheit dagegen gesagt, okay, ich schreibe meine Geschichte auf, wie ich damals dort ermittelt habe - da ging es um die Unfallursachen. Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, zu sagen, ich will dazu beitragen, aufzuarbeiten oder zu sagen: Nein, ich ziehe mich zurück. 

Warum war es der Partei- und Staatsführung so wichtig, die Kontrolle zu behalten - eben die Trauer zu kontrollieren?

Baerens: Es muss da eine unglaubliche Angst und Paranoia geherrscht haben, dass sich die Betroffenen in irgendeiner Form antisowjetisch äußern. Wir haben ja in Schwerin eine besondere Situation gehabt: Die Stadt war komplett mit sowjetischen Soldaten umgeben. Es gab haufenweise militärische Einrichtungen in Schwerin - auch direkt an dem Wohngebiet , wo die Schüler herkamen - dem Großer Dreesch. Gleich gegenüber war eine große Kaserne. Noch bevor die Eltern und Angehörigen erfahren haben, ob ihr Kind betroffen war oder nicht, ist die Staatssicherheit in die Betriebe der Eltern rein, hat sich dort die ganzen Personalunterlagen angeguckt. Sie haben Gefährder-Analysen gemacht - von denen, die Opfer sind, um rauszukriegen, wer könnte sich vielleicht in den nächsten Tagen antisowjetisch äußern.

Weitere Informationen
Ein Kopfhörer liegt auf mehreren Notenseiten. © picture alliance - Bildagentur-online - Tetra Images

Das Kulturjournal auf NDR 1 Radio MV

Ausstellungen, Konzerte, Bücher, Filme, Festivals: Bei NDR 1 Radio MV montags bis freitags ab 19.05 Uhr im Kulturjournal. mehr

Da kam es immer wieder zu Eingriffen des Staates, in individuelle Trauerprozesse.

Baerens: Das sagt dieser Titel auch, "Trauer unter Kontrolle". Im Buch sind mehrere Beispiele von Eltern drin, die versucht haben, auf Schadensersatz gegen Aeroflot zu klagen. Das hat die Staatssicherheit im Hintergrund gestoppt. 

Du beschäftigst dich mit diesem Thema schon sehr lange. Gibt es etwas, was dich antreibt?

Baerens: Ich habe damals hier in Schwerin gewohnt. Ich war vielleicht zwei, drei Jahre älter als die Schüler, die es damals betroffen hat. Ich habe diese Zeit noch im Gefühl, aber ich habe keine direkten Freunde oder Familienangehörige verloren. Das hat es mir in der Folge sehr erleichtert, weit genug weg zu sein und trotzdem dicht genug dran zu sein. Und, ich hatte es vorhin schon gesagt, irgendwann sind die Geschichten zu mir gekommen. Am Anfang von Recherchen ist das so: Man baggert und baggert und freut sich, wenn man irgendjemanden trifft, der einem etwas erzählen kann. Jetzt ist es eigentlich so, dass ich alle zwei, drei Wochen eine lange E-Mail von jemandem bekomme, mit dem ich keinen Kontakt hatte und der mir auch wieder eine Geschichte erzählt.

Gibt es möglicherweise noch ein nächstes Buch?

Baerens: Nein , das habe ich jetzt an der Stelle nicht vor, nein.

Weitere Informationen
Passanten überqueren 1990 eine Straße am Schweriner Schloss. © dpa - Report Foto: Rolf-Peter Frischmann

1990: Schwerins harter Kampf um den Hauptstadt-Titel in MV

Nach langem Ringen fällt am 27. Oktober 1990 die Wahl auf die Residenzstadt als Sitz des Parlaments. Rostock zieht den Kürzeren. mehr

Die Schweriner Paulshöhe liegt weiter brach. Hier war einst ein Sportplatz. © NDR Foto: Chris Loose

Paulshöhe in Schwerin: Wie geht es mit dem Sportplatz weiter?

Die Stadtvertretung hatte zuletzt ein Konzept für die Fläche abgelehnt. Nun soll ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben werden. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Kulturjournal | 24.03.2025 | 19:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Sachbücher

Rote und rosafarbene Bücher stehen vor einen rosafarbenen Hintergrund. © IMAGO / Panthermedia

Neue Bücher: Diese Neuerscheinungen bietet 2025

Neues gibt es beispielsweise von Wolf Haas, Antje Rávik Strubel oder Kristine Bilkau und vielen weiteren. Ein Blick aufs Literaturjahr. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Besucher der Leipziger Buchmesse gehen durch eine Röhre zwischen den Messehallen © Jan Woitas/dpa-Bildfunk Foto: Jan Woitas

Leipziger Buchmesse 2025: Was die nächsten Tage wichtig wird

Mehr als 2.000 Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Die Hamburgerin Kristine Bilkau darf auf den Buchpreis hoffen. mehr