"The Oceans": Nach Bewunderung heischende Extremsport-Fotografie
Der amerikanische Fotograf und Surfer Chris Burkard konzentriert sich auf die abgelegenen, gewaltigen und mitunter eisigen Ozeane. Im Bildband "The Oceans" versucht er den Spagat zwischen Sport- und Naturfotografie.
Am Anfang dieser Rezension muss eine Warnung stehen. Sie lautet: Dieser Bildband ist nicht das, was er vorgibt zu sein. Er trägt einen falschen Titel, und er hat das falsche Titelbild. Denn es geht hier in erster Linie nicht um „The Oceans – Die Ozeane“. Und der einsame Wanderer des Titelbilds, der von einer Klippe in Oregon auf eine nebelverhangene Bucht hinaus blickt, voller zerklüfteter Riffe inmitten von schäumenden Wellen, steht nicht sinnbildlich für "Chris Burkards maritime Fotografie", wie es der Untertitel behauptet.
Coolster unter coolen Jungs
So liegt der Band vielleicht beim Buchhändler aus, geschmackvoll in meeresblauem Leinen gebunden; so taucht das Cover in Online-Katalogen im Internet auf und verheißt: Naturfotografie, Wildnis, Schönheit der Landschaft. All dies, sagt Chris Burkard, liebe er ja auch, all dies überwältige ihn auf seinen Reisen an abgelegene Küsten und Strände. Und trotzdem ist all dies nur Kulisse für einen jungen Mann, der in erster Linie gern ein Superheld sein möchte. Der Coolste unter den coolen Jungs, mit denen er unterwegs ist, um Selfies zu machen und Drohnen steigen zu lassen. Nicht als Naturfotograf, sondern als Surf-Fotograf. "Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt eine echte Berufsbezeichnung ist", bekennt er. "Meine Eltern glaubten das definitiv nicht, als ich ihnen mit 19 erzählte, dass ich meinen Job aufgebe, um meine Traumkarriere zu verfolgen."
Zuschauer sind Chris Burkard wichtig
Burkard wurde ein sehr erfolgreicher Surf-Fotograf. Viele Aufnahmen aus diesem Band beweisen das: Spektakulär, wie der Bursche in komplett durchtränktem weißen T-Shirt die türkisfarbene, bildfüllende Karibik-Welle reitet! Dynamisch, wie ein Junge als dunkler Schattenriss auf seinem Board in die Luft springt, eingerahmt von orange-goldenem kalifornischen Sonnenlicht, im Hintergrund des Strandes ist unscharf eine Masse Zuschauer zu erahnen. Überhaupt: Zuschauer sind Chris Burkard wichtig, auf mehreren Bildern stehen sie auf Brücken, lehnen an Kaimauern, bewundern die athletischen Surfer. Auf Dauer war ihm das jedoch zu gleichförmig, sagt er. "Ich fing an, mich nach wilden, offenen Landschaften zu sehnen. Denn wenn ich etwas verstanden habe, dann dass jede Karriere – sogar eine so glamouröse Karriere wie die Surf-Fotografie – Gefahr läuft, monoton zu werden."
Bildausschnitt, Komposition, Perspektive? Nahezu egal
Und so wurde Burkard zum Eiswasser-Surfer. Er reitet arktische Wellen auf Island, vor den Vulkanen Kamtschatkas, am Polarkreis in norwegischen Gewässern und vor der Inselgruppe der Kurilen. Bärtige Männer in schwarzen Wetsuits durchpflügen die donnernde Brandung, Im Hintergrund erhebt sich majestätisch ein gletscherbedeckter Vulkan oder wabert feucht-grauer Nebel. Das sind Burkards Meeresbilder. Ihm gelingen fraglos phantastische Aufnahmen, wie sie in jedem Surfsport-Magazin als Fotostrecke eine Sensation wären. Er merkt jedoch leider nicht, wie auch solche Sport-Sensationen in einem 300-Seiten Bildband allmählich monoton werden. Und das erst recht, wenn sie allzu oft dem simpelsten aller Bildverständnisse folgen: "Lass eine Drohne fliegen und nimm alles von oben auf!" Das sieht beim ersten Mal toll aus, beim zweiten, dritten und vierten Mal okay, danach aber nur noch: einfallslos-kunstlos. Bildausschnitt, Komposition, Perspektive? Nahezu egal. Drohne hoch, runtergucken, Landschaft als Totale – und darin gern ein muskulöser Typ mit einem Surfbrett in Neonfarben.
Coole Typen in eisigem Wasser
Das alles kann man machen – wenn man dann den Bildband "Glorious Surfing" nennt, vielleicht auch "Coole Typen in eisigem Wasser" – oder gern flapsig "Kalter Arsch mit Schneegestöber". Dann passen Anspruch und Bildwelten zusammen. Dass aber der Klappentext von "kaleidoskopisch marinem Leben" schwärmt und nochmal schnell die dringende Menschheitsaufgabe erwähnt, unseren "fragilen blauen Planeten" zu retten - das ist bei dieser lediglich nach Bewunderung heischenden Art von Extremsport-Fotografie schon etwas irritierend.
The Oceans - The Maritime Photography of Chris Burkard
- Seitenzahl:
- 320 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 24,5 x 33 cm, gebunden
- Verlag:
- gestalten
- Veröffentlichungsdatum:
- September 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-96704-126-2
- Preis:
- 60,00 €