Mutiger Russland-Bildband: "My Country Is Female"
Die in Paris lebende russische Fotokünstlerin Gouzelle Ishmatova zeigt in ihrem Bildband "My Country Is Female" eigene Bilder, die "ihr Russland" vorstellen sollen.
Es sind allegorische Aufnahmen, die etwas symbolisieren sollen, das sich für die Betrachter nicht leicht entschlüsseln lässt. Rezensentin Martina Kothe hat sich deshalb für diese Buchbesprechung fachkundige Verstärkung geholt: die russische Musikwissenschaftlerin Anna Fortunova.
Gouzelle Ishmatova: "Mit Stereotypen konfrontiert"
Im einzigen Text ihres Buches schreibt Gouzelle Ishmatova:
(…) trotz meiner schönen Kindheit in der UdSSR, beschloss ich mit 25 Jahren nach Westeuropa zu gehen. Ich wurde als russische Frau mit zahllosen Stereotypen konfrontiert. Leseprobe
"Mit unterschiedlichen Stereotypen konfrontiert - das ist interessant, denn wenn man Russland so als Frau darstellt, dann ist das auch ein Stereotyp", gibt Anna Fortunova zu bedenken. Die Musikwissenschaftlerin aus Nischni Nowgorod lebt seit 13 Jahren in Hannover. Wir beugen uns gemeinsam über die Fotografien, blättern, überlegen.
Ein Stehaufmännchen. Ein kleines Kinderspielzeug auf der rechten Bildseite. Runde, aufgemalte Augen, kugeliger Körper. Auf der linken Seite: ein kleines Mädchen im bunten Kleid, rote Sandalen an den Füßen. Sie steht auf einer Wiese und sieht den Betrachter direkt an, im Hintergrund Gebäude.
"Das ist ein Spielzeug, das nennt man Newaljaschka", sagt Fortunova. "Ich weiß nicht, ob Kinder in Russland immer noch damit spielen. Das Wort bedeutet: Es kann nicht umfallen, es kommt immer wieder hoch. (…) Zumindest in meiner Vorstellung ist das ein Spielzeug für Mädchen."
Buchcover erinnert an Bizets Carmen
Gesichter, Landschaften, Frauen, Männer, Kinder. Neugeborene die gestillt werden, junge Mädchen auf Inlinern, Verliebte. Sie alle hat Gouzelle Ishmatova fotografiert. Mal arbeitet sie dokumentarisch, mal inszeniert sie. Wie auf dem Cover des Buches: Zwei hochhackige, rote Schuhe stehen mit ihrer Trägerin auf einer Betonkante. An den langen, dünnen Absätzen klebt dunkles Laub. Knalliges Rot inmitten Grün-Braun- und Grautönen.
"Man könnte zum Beispiel an Carmen von Bizet denken", so Fortunova. "An Frauen, die - wenn man so will - ihr Ding gemacht haben. Das bestimmt haben, was sie bestimmen wollten. Und wenn das nicht möglich war: Carmen war auch bereit, mit ihrem Leben dafür zu zahlen, dass sie Freiheit hatte, so wie sie sie verstanden hat."
Das Motiv wird im Buch noch einmal aufgenommen. Da haben sich die Absätze bereits teilweise in den weichen Boden versenkt. Sie muss eine ganze Zeit durch Laub und die Erde gelaufen sein, die Frau mit den roten Schuhen.
"My Country Is Female": Reizvoll und herausfordernd
Ein junges Mädchen, die blonden langen Haare fallen über ihre linke Schulter. Mit einer Hand hält sie die zu große Kappe auf dem Kopf fest. Es ist Sommer. Sie trägt ein weißes Top und blaue Shorts mit weißen Sternchen. Im Hintergrund lehnen lange Leitern an einem Holzhaus.
"In diesem Buch unternehme ich den Versuch, mir selbst zu erklären, was es heute bedeutet, eine russische Frau zu sein. Fast noch wichtiger ist allerdings die Frage: welche Zukunft die Frauen für sich selbst wollen", schreibt Gouzelle Ismatova im Vorwort.
Ohne die üblichen Wegweiser aus Zeitangaben, Ortsangaben, Texten zu den Bildern, blättert man hin und her, mutmaßt und interpretiert. Das ist reizvoll, fordert aber auch den Betrachter, die Betrachterin, heraus. Man muss sich Zeit nehmen. Eigene Geschichten finden. Ein mutiges Buch.
My Country Is Female
- Seitenzahl:
- 96 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Kehrer
- Bestellnummer:
- 978-3-96900-065-6
- Preis:
- 38 €