"Midcentury Memories": Anonyme Aufnahmen aus dem Dia-Zeitalter
Der kompakte Bildband zeigt uns lauter amüsante Erinnerungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und beweist: Vor einigen Jahrzehnten haben die Menschen genau dieselben Dinge auf Bildern festhalten wollen wie heutzutage.
Die Braut marschiert still lächelnd vorneweg. Eingehüllt in weiten, weißen Stoff, auf dem Kopf einen Schleier wie eine Schneelawine. Ihr frisch angetrauter Gemahl tappt im schwarzen Anzug hinterdrein, hält den Saum ihres Kleides hoch, damit das nicht durch den rundum liegenden Schnee schleift. Und hinter ihm, im Gänsemarsch, folgen die Brautjungfern. Die Trauung scheint soeben zu Ende gegangen, Hauptpersonen und Gäste verlassen die Kirche und werden dort schon von Fotografen erwartet. Ein klassisches Motiv, wie es später gern beim Dia-Abend gezeigt wird.
So wie auch der Weihnachtsabend, hier schon recht fortgeschritten: Die drei Kleinsten hocken neben dem mit Lametta geschmückten Tannenbaum und spielen mit den neuen Geschenken. Der Herr Papa ist unterdessen im Sitzen auf dem Sofa eingenickt, der Kopf ist ihm schräg auf die Brust gesunken. In weißem Hemd und blausilbern glitzernder Krawatte - er hat sich schick gemacht - hockt und hängt er strumpfsockig da. Für die älteste Tochter war der Abend auch schon zu lang, sie schläft mit dem Kopf auf Papas Schoß. Und Frau Mama? Findet die Szene offenbar amüsant und drückt geschwind auf den Auslöser. Ein Familienidyll, ebenso individuell wie zugleich auch allgemeingültig.
Schnelle Klicks - doch wo sind die Betrachter?
Wer genau da fotografiert hat, vor der Kirche, im weihnachtlichen Wohnzimmer, ist und bleibt unbekannt in diesem nicht umsonst so genannten "Anonymous Project". Lee Shulman, der Herausgeber des Bildbands, hat im Laufe der Jahre 700.000 Dias gesammelt - hier mal einen Pappkarton gekauft, dort auf dem Flohmarkt eine Fotokiste erstanden - und gestaunt, welche privaten Geschichten, lustigen und skurrilen Momente auf diesen einst weggegebenen Aufnahmen versammelt sind. "Die süßen, seltsamen, zufälligen Momente, an die sich heute niemand mehr erinnert. Es sei denn, jemand hat sie auf einem Foto festgehalten", wie es im Vorwort heißt.
Nahezu niemand kennt heutzutage die Personen auf den Bildern der 1930er- bis 1970er-Jahre: das kleine Barfuß-Mädchen mit der Eiswaffel auf der gepflasterten Strandpromenade, die ausgelassen Polonaise tanzenden Senioren auf einer Feier im orange-tapezierten Wohnzimmer, den Hobby-Angler mit Sonnenhütchen, der im Garten auf akkurat gestutztem Rasen seinen Fang ausgebreitet hat und sich dazu gleich mit präsentiert. Und doch haben wir alle ähnliche Bilder schon einmal gesehen oder machen sie sogar selbst mit dem Smartphone.
Wenn der einleitende Essay die kluge Beobachtung macht, "dass Dias leichter gemacht sind als betrachtet", weil anschließend ein großer Aufwand mit Apparat, Leinwand, verdunkeltem Zimmer (und auf dem Sofa aufgereihter Familie mitsamt Gästen) betrieben werden muss, so ist es doch heute nicht sonderlich anders. Der schnelle Klick mit dem Smartphone schafft hunderte Bilder. Doch wo sind die Betrachter, die mit ruhigem, interessierten Blick darauf schauen? Die schiere Masse verhindert die Sichtung - heute wie damals.
Hochzeiten, Einschulungen und der Sommerurlaub am Meer
Die hier versammelten "Midcentury Memories", Erinnerungen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zeigen neugeborene Kinder wie das neue Auto oder Fahrrad, Hochzeiten und Kinderfasching, Einschulungen, Betriebsfeten und den Sommerurlaub am Meer. Schöne, heitere Momente der zumeist weißen US-Mittelklasse in plüschigen Wohnzimmern mit gerüschten Lampenschirmen, verrutschte Badehosen und lachende Gesichter auf Klappstühlen.
"Diese Gelegenheiten waren bedeutungsvoll nur für die Teilnehmer, und vielleicht nicht einmal für sie", sinniert das Vorwort. Wie wahr, denn wie oft wird dies und das im Überschwang geknipst, bekichert, vergessen. Im Dia-Zeitalter nicht anders als in der Ära Instagram.
Dabei sind viele dieser anonymen Aufnahmen hinreißend, herzerwärmend, zeigen verräterische Schnappschüsse, aufgeblitztes Leben, die private Version von street photography/living room photography, wenn man so will. Die Herausgeber haben recht: "Es ist ein fortdauerndes Wunder der Fotografie, dass all die Beispiele hier, die jedes nur einen Bruchteil einer Sekunde festhalten, kollektiv Millionen Leben aufscheinen lassen."
Midcentury Memories. The Anonymous Project
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Taschen
- Bestellnummer:
- 978-3-8365-9664-0
- Preis:
- 15 €