Bildschöne Bücher: Das Leben von Marina Abramović als Foto-Story
Die Künstlerin Marina Abramović wollte ihr Leben und ihre Arbeit mit den Augen eines anderen Menschen sehen. Dafür hat sie der Autorin Katya Tylevich uneingeschränkten Zugang zu ihren Archiven und Familienfotos gewährt.
Fast anderthalb Jahre hat das Projekt gedauert und ein Buch hervorgebracht, das 500 Seiten stark und drei Kilogramm schwer ist.
Abramovićs Kindheit in Bildern
Der Einband aus bordeauxrotem Lederimitat erinnert an ein Fotoalbum. Ein Buch, in dem die Bilder eines Lebens aufbewahrt sind. Tatsächlich tauchen wir direkt ein in die Kindheit der Künstlerin, die 1946 in Belgrad geboren wurde - damals noch die Hauptstadt Jugoslawiens. Ein doppelseitiges Schwarzweiß-Porträt zeigt die kleine Marina mit ihrem Vater Vojo Abramović. Vier oder fünf Jahre mag sie auf dem Foto sein: ein Mädchen mit Schleifen im Haar, das seinem Papa ein bewunderndes Lächeln schenkt.
Wie in einem gut geführten Album gibt es zu jedem Foto einen Kommentar, manchmal auch Zwiegespräche zwischen der Autorin und der Künstlerin. Eine Seite hinter dem Doppelporträt von Vater und Tochter folgt ein Bild, auf dem Vojo Abramović und zwei andere Männer eine Dorfstraße hinunter reiten.
Während des Zweiten Weltkriegs war mein Vater Kommandant einer Partisanenbrigade und ritt auf einem Schimmel durch die Dörfer. Er lenkte die Deutschen ab, und während sie auf ihn schossen, stürmten seine Soldaten die Dörfer.
Wie ein bebilderter Roman
Foto für Foto kommentiert Marina Abramović ihr Leben: Sie erzählt von ihrer privilegierten, aber lieblosen Kindheit als Tochter kommunistischer Funktionäre unter Tito. Von ihrem schillernd-schönen Vater, der ständig fremdging und die Familie verließ, als sie 17 war. Und von ihrer strengen und unnahbaren Mutter, die nach dem Krieg ein Belgrader Museum leitete. Durch sie bekam Marina schon früh Zugang zur Kunst.
Später, als ich mit Ulay nach Hause kam, hat sie gelogen und allen erzählt, er sei Holländer.
Ulay - der Künstler, mit dem Marina Abramović 13 Jahre in einer symbiotischen Liebes- und Arbeitsbeziehung lebte - war in Wirklichkeit Deutscher: Frank Uwe Laysiepen. Ein unverzeihlicher Makel in den Augen ihrer Mutter, die im Krieg als Partisanin gegen die Nazis gekämpft hatte.
Die großformatigen Fotos, die Kommentare und Auszüge aus Tagebüchern und Briefen der Künstlerin lesen sich so kurzweilig und unterhaltsam wie ein bebilderter Roman. Voller Dramatik, Leidenschaft und kompromissloser Entscheidungen. Die privaten Details aus der Kindheit oder den Liebesbeziehungen von Marina Abramović sind jedoch mehr als belanglose Plaudereien: Sie werfen ein Licht auf ein Werk, das vom Leben der Künstlerin nicht zu trennen ist.
Eine Künstlerin, die über ihre eigenen Grenzen hinausging
Was bleibt einer Tochter von zwei Kriegshelden übrig, als noch mutiger, noch disziplinierter, noch härter gegen sich selbst zu agieren als ihr Vater und ihre Mutter? Die Fotos von Marina Abramovićs Performances zeigen eine Künstlerin, die so weit über ihre eigenen Grenzen hinausgegangen ist wie kaum jemand sonst: 1974 stellte sie sich in einer Galerie in Neapel als Objekt zur Verfügung. Prompt lebten die Besucher an ihr ihre gewalttätigen Fantasien aus. 23 Jahre später schrubbte sie auf der Biennale in Venedig Blut von verwesenden Rinderknochen. Und bei ihrer wohl bekanntesten Aktion "the artist is present" saß sie 2010 drei Monate lang auf einem Stuhl im Metropolitan Museum of Modern Art. Täglich sieben Stunden am Stück. Ohne Pause, ohne zu sprechen, ohne zu essen oder zu trinken.
Man mag von ihrem erbarmungslosen Einsatz des eigenen Körpers, von den gnadenlosen Anforderungen an sich selbst und ihrem langjährigen Partner Ulay begeistert oder abgestoßen sein. Dass Marina Abramović in den mehr als 50 Jahren ihrer Künstlerinnenkarriere ein radikales, vielschichtiges und konsequentes Werk geschaffen hat, ist unbestreitbar.
Weiteres Buch mit Abramovićs persönlichem Material erschienen
Fast zeitgleich gibt der Prestel Verlag weiteres persönliches Material aus dem Archiv der Künstlerin heraus: ein Buch mit Notizen, Skizzen und Gedichten, die Marina Abramović auf ihren Reisen durch die ganze Welt auf Schreibblöcken von Hotels gemacht hat. All dies bleibt jedoch unkommentiert, als Material, das jede Leserin, jeder Leser blätternd, grübelnd, schmunzelnd oder sich wundernd betrachten und sich etwas Eigenes dazu denken kann.
Katya Tylevich hält dagegen in ihrer Bild-Biografie die flüchtigen Momente der Performance-Kunst in Form einer schön gestalteten Fotogeschichte fest. So spontan, so offenherzig und persönlich sich das Buch gibt, ist es doch von der ersten bis zur letzten Seite präzise inszeniert. Und man muss keine Hellseherin sein, um dahinter nicht nur die Autorin zu vermuten, sondern auch Marina Abramović höchstselbst - the artist is present.
Marina Abramović, Eine Bild-Biografie, Nomadic Journey and Spirit of Places
- Seitenzahl:
- 496 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Laurence King
- Bestellnummer:
- 978-3-96244-342-9
- Preis:
- 98 €