Leere Stadtlandschaften mit poetischer Kraft
In den vergangenen Monaten haben wir neue Einblicke gewonnen: Fotos von menschenleeren Straßen und Plätzen, von leeren Innenstädten gab es reichlich, denn die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus und die zahlreichen Pandemie-Beschränkungen haben die Menschen in ihre Wohnungen, Häuser, ins Private getrieben. Ein neuer Bildband aus dem Steidl Verlag zeigt scheinbar die gleichen Ansichten, und doch ist alles ganz anders. Der Fotograf Mat Hennek hat die Bilder für "Silent Cities" über viele Jahre hinweg aufgenommen, ohne zu ahnen, dass 2020 eine Pandemie solche Stadtansichten weltweit hervorrufen würde. Hennek mied bei seinen Streifzügen touristische Plätze, ließ sich einfach treiben - und fand leise Momente von stiller, poetischer Kraft.
Nichts soll von den Bildern ablenken
Wo sind wir hier? In einem Hauseingang vielleicht, oder dem Innenhof eines Wohnblocks. Sandfarbene Säulen aus Ziegelstein bilden drei vertikale Linien, beschienen von Tageslicht, das von oben herab fällt. Offenbar soll man nicht zwischen den Säulen hindurchgehen, zwei Gummibäume im Steinguttopf versperren den Weg. Absurd, wie Fremdkörper, stehen die beiden Grünpflanzen in der gefliesten Umgebung. Je länger man hinschaut, desto skurriler wirken sie mit ihrem unterschiedlich gestutzten Blattwerk - wie ein Pfeil zeigen die Blätter des linken Bäumchens nach unten, der Gummibaumpfeil rechts weist nach oben. Womöglich auf die zwei schwarzen Bildschirme an der Wand dahinter? All das sieht der Betrachter aus dem Dunkel eines Vorraums, wahrscheinlich der Platz vor Fahrstuhltüren. Auch die Bildunterschrift hilft hier nicht weiter.
"Eine reine Ode an die Fotografie"
Anders gesagt: Sie beeinflusst den Blick absolut nicht. "Ich möchte nichts von der Intensität des Bildes wegführen", sagt Mat Hennek über seine Arbeit. "Das heißt keinerlei Ablenkung und Verdichtung durch Text, sondern es ist eine reine Ode an die Fotografie." Das Bild allein soll wirken, ist sogar absichtlich aus dem Kontext, aus der Umgebung herausgerissen. Es spielt keine Rolle, was sich außerhalb des Bildausschnitts befindet, ob Personen, Fahrzeuge oder Geräusche in der Nähe waren. Auf Henneks kunstvoll komponierten Aufnahmen wird die Stadtlandschaft still, ist erstarrt, im Augenblick eingefroren. "Bei sehr gelungenen Aufnahmen muss ich zum Teil bis zu zwei Stunden warten an dem Standort, den ich gewählt habe, um dann wirklich den Bruchteil der Sekunde zu finden, wo weder Auto noch Mensch in der panoramagefassten Aufnahme zu sehen oder zu erleben ist", sagt Hennek. "Um dann die Essenz in meinen Bildern wiederzuentdecken, durch Architektur, durch angepflanzte Botanik, oder Buschwerk, Baum, neben Bordstein, Schild."
Blick auf die eigenwillige Schönheit dieser Welt
Botanik, Buschwerk, Beton, Bordstein. Das bringt auf den Punkt, was Mat Henneks Bilder ausmacht - oder besser: was unsere Welt ausmacht. In dieser Welt aus Asphaltstraßen, Stahlbeton, Springbrunnen, spiegelnden Glasfassaden, gemähten Grasflächen und trockenen Büschen leben wir. Wer ganz genau hinschaut, entdeckt mal die Traurigkeit, mal die eigenwillige Schönheit dieser Welt. Eine Hauswand aus Beton, irgendwo in Los Angeles. Grauweiß und leicht angeschmutzt, praller Sonne ausgesetzt - ein trister Anblick, den auch die hüfthoch gemalten graublauen Farbstreifen nicht bessern. Davor zwei Müllbehälter aus Blech. Ein nur nachlässig hineingestopfter Kleidungsfetzen ist die einzig anarchische Form des Bildes - wie ein lila Vorhang hängt er über, an, aus der Tonne. Es dominieren Vertikale, Horizontale und rechte Winkel. Exakt mittig durchschneidet eine senkrechte Lichtkante die Fotografie. Der tote Bildschirm an der Außenwand scheint keinen Sinn zu haben und wirkt doch rechteckig-ästhetisch. Licht- und Schattenspiel machen aus der Aufnahme zuletzt ein Kunstwerk.
Ein mampfendes Nashorn als Kontrapunkt
"Silent Cities", stille Städte, das kann Grafitti auf Brownstones in New York sein, Düsseldorf mit einem rot-goldenen Glas-Chrom-Gebäude, Osaka mit Absperrgitter, orange-weißen Hütchen und dem Wandbild an einer Stahlblechhalle. Es zeigt spielende Kinder, lediglich zweidimensional, angepinselt. Am Fuß der Betonplatten in Dallas wachsen gelbe Stiefmütterchen neben akkurat getrimmter Hecke. Und im Zoo von Leipzig steht ein graues Nashorn mit dem Rücken zum Betrachter im Gehege und frisst seelenruhig sein frisch-grünes Heu. "Mein kleiner Kontrapunkt, den ich poetisch, zum Schmunzeln finde", sagt Hennek. "Finde ich schön, wie es da steht und sich in die Wand einebnet und sich vollmampft, das gefällt mir."
Silent Cities
- Seitenzahl:
- 96 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 80 Abbildungen, 29 x 32 cm, englischsprachig
- Verlag:
- Steidl
- Bestellnummer:
- 978-3-95829-655-8
- Preis:
- 45 €