Zeit vergeht wie im Flug oder zieht sich ewig - warum ist das so?
Manchmal fühlen sich ein paar Minuten wie eine Ewigkeit an, manchmal verfliegt die Zeit. Warum ist das so? Und kann man dieses Zeitgefühl steuern? Ein Gespräch mit dem Psychologen Marco Wittmann.
Herr Wittmann, die Zeit ist schon wunderlich. Woran liegt das, dass wir Zeit so unterschiedlich wahrnehmen?
Marc Wittmann: Wenn wir die Zeit im Moment erleben, dann bedeutet es, dass wir überhaupt auf die Zeit achten. Denn wenn wir abgelenkt sind - mit einer interessanten Unterhaltung, einem schönen Film -, dann erleben wir die Zeit nicht. Warum? Weil wir nicht auf die Zeit achten. So einfach ist es im Grunde. Achten wir auf die Zeit, streckt sie sich, achten wir nicht auf die Zeit, vergeht sie ganz schnell, wenn wir dann plötzlich zurückblicken. Aber die Frage ist: Was bedeutet das eigentlich, auf die Zeit zu achten? Das ist das große Rätsel der Zeit. Das ist im Grunde dadurch gelöst, dass man sagen könnte: Ich achte auf mich selbst und meine Körperlichkeit. Mit meiner Körperlichkeit, mit meiner Leiblichkeit, bin ich meine eigene Zeit. Denn wenn ich auf mich selber achte, achte ich auch auf die Zeit. Wenn ich abgelenkt bin von mir, dann vergeht auch die Zeit viel schneller.
Das heißt, man kann so ein bisschen selbst steuern, wie man die Zeit wahrnimmt?
Wittmann: Genau. Manchmal hat man den umgekehrten Fall, dass die Zeit sehr schnell vergeht - und dann ist es eine gute Idee, mal ruhig spazieren zu gehen, auf sich zu achten, zu hören, wie es mir eigentlich geht. Im Grunde geht es darum, sich fast schon meditativ mit sich selber zu beschäftigen, und dann vergeht die Zeit langsamer, Umgekehrt, wenn uns langweilig ist, weil wir so sehr auf uns achten, weil sie zum Beispiel nicht abgelenkt sind, weil wir warten - dann lenken wir uns von uns selbst ab, indem wir zum Beispiel unser Handy zücken und schauen, was die neuesten Nachrichten sind.
Der Kinofilm "Oppenheimer" dauert zum Beispiel drei Stunden, die Wagner-Opern an den Bayreuther Festspielen sind noch länger. Viele Menschen stellen fest, dass es schwerfällt, sich auf einen langen Film oder eine lange Oper einzulassen. Warum?
Wittmann: Erst einmal hängt es damit zusammen, ob ich in Resonanz trete mit dem, was ich tue, was ich schaue. Wenn mir etwas Spaß macht, weil ich ganz erfüllt bin von der Tätigkeit, dann wird die Zeit auch gar nicht so langsam vergehen, sondern ganz schnell. Wenn man zum Beispiel in die Oper geht, man aber eigentlich kein Opernfan ist, dann wird einem wahrscheinlich langweilig und die Zeit wird langsam vergehen. Aber wenn ich ein Opernfan bin, werde ich richtig absorbiert sein von dem, was ich sehe, sodass ich mich selber nicht sehe, und dann vergeht die Zeit ganz schnell oder angenehm schnell. Jemand, der keine Opern mag, dafür aber Videospiele, für den vergehen vier Stunden beim Videospielen auch ganz schnell.
Viele Menschen sind auch viel im Internet oder mit dem Handy beschäftigt. Inwieweit ist unser Zeiterleben auch davon geprägt, dass wir die kurzen Schnipsel im Handy oder in den sozialen Netzwerken sehen?
Wittmann: Man könnte fast sagen, das ist wie bei den Rauchern, die ständig einen neuen Input von Nikotin bekommen und dann plötzlich süchtig werden. So ähnlich ist es auch mit dem Handy, dass wir ständig positiven Input bekommen können. Es ist nicht nur spannende Nachrichten, sondern E-Mails, SMS et cetera. Dieser ständige positive, kurzfristige Input macht uns fast süchtig, deswegen schauen wir immer wieder drauf, weil wir es gelernt haben, diese hochfrequenten, positiven Rückmeldungen übers Handy zu bekommen. Das ist eigentlich eine perfide Sache.
Das Internet versetzt uns in gewisser Weise auch in die Situation, dass wir an mehreren Orten gleichzeitig sein können. Es sitzt zum Beispiel eine Gruppe von Freunden, Freundinnen gemeinsam im Café, aber alle schauen auf ihr Handy, keiner ist wirklich in der Gesprächssituation vor Ort und erlebt diese Zeit bewusst, sondern alle sind gerade woanders. Inwieweit hat auch das einen Einfluss auf unser Zeiterleben?
Wittmann: Das ist ein interessanter Effekt, den man immer wieder beobachten kann. Man verliert sozusagen die Gemeinschaft. Aber im Grunde ist es ein Zeichen dafür, dass wir uns in dieser Gemeinschaft, in der wir uns jetzt befinden, nicht wohlfühlen. Die Anbindung ans Internet bedeutet ja, dass ich mit der ganzen Welt verbunden bin. Ich habe die komplette Verbindung mit allen Menschen potenziell in der ganzen Welt. Dadurch verschwindet Raum - aber auch die Zeit: Meine zeitliche Verortung im Hier und Jetzt mit meiner Körperlichkeit verschwindet, weil ich mir etwas anschaue, was ganz woanders stattfindet, aber nicht im Hier und Jetzt. Das ist ein bisschen seltsam oder fast schon traurig, wenn Leute, die zusammensitzen, nicht miteinander kommunizieren können. Denn wenn wir gut miteinander kommunizieren, sind wir in einem Zustand des Wohlbefindens und die Zeit vergeht in einem angenehmen Flow - wenn wir mit den richtigen Leuten zusammen sind. Das ist eher ein Zeichen davon, dass wir vielleicht nicht mit den richtigen Leuten zusammen sind, wenn wir aufs Handy starren müssen.
Was kann ich machen, um meine Selbstsouveränität in Sachen Zeit und den bewussten Umgang mit Zeit zurückzuerobern?
Wittmann: Wir sind verankert mit unserem Körper und bestimmen dadurch unser Zeitgefühl. Wenn uns die Zeit zu schnell dahinrast, dann müssen wir uns wieder auf uns selber besinnen: Tür schließen, damit wir alleine sind, durchschnaufen und aufs Jetzt konzentrieren. Was passiert jetzt eigentlich? Wie geht es mir? Wenn ich mich selber mit meiner Körperlichkeit wieder bemerke, dann vergeht die Zeit plötzlich wieder langsam. Dieses Gefühl des Zeitdrucks, dass man etwas nicht schafft, verschwindet, und das Gefühl der Zeitkontrolle kommt wieder zurück, weil ich plötzlich wieder merke, dass die Zeit wieder langsam vergeht. Es ist kein Wunder, warum in unserer Gesellschaft so viele Leute Meditation und Yoga machen: weil sie auch da dieses Gefühl der Zeitkontrolle über die Körperkontrolle bekommen.
Die andere Situation ist, wenn wir ein bisschen missmutig sind, wenn wir das Gefühl haben, blockiert, gebremst zu werden, weil wir zum Beispiel im Stau oder an der Supermarktkasse stehen. Da könnte man sagen: Es sind eigentlich nur drei oder vier Minuten, die ich warten muss, aber jetzt habe ich endlich mal Zeit, in Ruhe über nachzudenken, was ich heute Abend machen will. Das nennt man kognitives Umstrukturieren.
Das Interview führte Friederike Westerhaus.