Verfassungen: Lebender Anachronismus oder Motor des Wandels?
Verfassungen sind lebenswichtig für Demokratien. Entscheidend, meint der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in seinem Essay, sollte der Geist einer Verfassung sein - dann dient sie als stabile Brücke in die Zukunft.
Gerne erinnert sich die Bundesrepublik Deutschland an ihre Ursprünge in den späten 1940er-Jahren, als in Herrenchiemsee und Bonn das Grundgesetz ausgearbeitet wurde. Am Urtext sind seither zahlreiche, zum Teil substanzielle Änderungen und Ergänzungen vorgenommen worden, doch stets wird der Geist der damals (übrigens nicht einstimmig) verabschiedeten Verfassung einer liberalen Demokratie beschworen, deren erfolgreiche Gründung so kurz nach der NS-Diktatur einem politischen Wunder gleichkam. Doch worin genau besteht dieser Geist? Hält er den Ursprung des damaligen Heraustretens aus der totalitären Barbarei fest, oder manifestiert er sich eher in flexiblen Anpassungen an die stets im Wandel begriffene Welt?
Die Politisierung der Justiz
In den USA wird seit Langem darüber gestritten, ob man der "ursprünglichen Absicht" der Verfassungsväter zu folgen habe (und das womöglich wortwörtlich), oder ob die "Constitution" von 1787 der zeitgemäßen Auslegung durch die Justiz im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels unterliegt. Und welche Supermehrheiten im Kongress und in den Bundesstaaten gegebenenfalls für solcherlei Anpassungen, "Amendments" genannt, erforderlich sein sollen. Diese Vorsicht ist nicht unbegründet gegen eine modische Verfassungsinterpretation durch den flatterhaften Zeitgeist und vor allem dagegen, dass Gerichte, speziell ein Oberstes Verfassungsgericht in Washington D.C. (oder Karlsruhe) Politik machen - an der Legislative vorbei und dem Gesetzgeber Vorschriften machend. Die Politisierung der Justiz ist eine starke Versuchung für selbstbewusste Richter und Richterinnen mit einer eigenen Agenda, und sie breitet sich derzeit vor allem in autoritär regierten Staaten aus. Am bedenklichsten ist das plebiszitäre Motto "Das Volk steht über dem Recht", das nicht nur, wie oft befürchtet, zur Wiedereinführung der Todesstrafe führen könnte, sondern geradewegs zur Selbstabschaffung der Rechtsstaatlichkeit unter Berufung auf einen ominösen Volkswillen. Nicht umsonst sind die ersten 20 Artikel unseres Grundgesetzes durch eine Ewigkeitsklausel, das heißt: eine dauerhafte Bestandsgarantie für verfassungspolitische Grundsatzentscheidungen geschützt. Die Grundrechte der Staatsbürger, die republikanisch-parlamentarische Staatsform selbst und der Föderalismus dürfen auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden.
Die verheerende Wirkung des Originalismus
Die Verfassungsprinzipien von Freiheit und Gleichheit müssen so allgemein gehalten sein, dass sie nicht am sozialen und kulturellen Wandel abprallen oder ihn verhindern. Die Vereinigten Staaten waren im 18. und 19. Jahrhundert noch eine agrarische Sklavenhaltergesellschaft, in der auch Frauen, Kinder und Fremde keine Rechte besaßen und Einzelstaaten das Rückgrat einer erst locker gefügten Nation bildeten. Auf diesem Stand der Rassentrennung und Frauendiskriminierung eine Verfassung zum unumstößlichen Maßstab zu erheben, wäre ein perfekter Anachronismus. Genau das beabsichtigt oder bewirkt aber der "Originalismus", eine in konservativen Kreisen beliebte, sich auch im Obersten Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten ausbreitende Rechtstheorie. Die beiden lange am Supreme Court tätigen Richter Clarence Thomas und Antonin Scalia vertreten sie in zwei Varianten: Rechtsprechung solle der ursprünglichen Absicht der Verfassungsväter folgen, also dem Zweck, den sie vor über 200 Jahren mit einer bestimmten Norm beabsichtigten, oder sogar dem Wortlaut dieser Norm folgen, den diese "Framers" zur Entstehungszeit formuliert hatten.
Strenggenommen, wenden Kritiker ein, würde man damit Ansprüche und Interessen der Lebenden für Tote opfern, deren Sprache keiner mehr spricht, deren damalige, gewiss ebenso zeitgeistige Intentionen keiner mehr kennen kann und deren Lebensumstände kaum zu rekonstruieren sind. Um ein praktisches Beispiel zu nehmen: Das First Amendment von 1791 garantierte die Pressefreiheit, damals für Druckerzeugnisse - was bedeutet das für eine Zeit, in der elektronische Medien dominieren? Damit ist die Abweichung vom Original und zeitgemäße Interpretation ebenso erforderlich wie, anderes Beispiel, bei der Zulassung einer Armee und Marine durch den frühen Kongress - gilt sie etwa nicht für eine Luftwaffe, die es technisch erst später geben konnte?
Welch verheerende Wirkung der Originalismus für die US-Rechtsprechung hat, zeigt sich am jüngsten, in seinem Geist getroffenen Urteil des Supreme Court, das Abtreibung in Revision des 1973 gesprochenen Präzedenzurteils Roe vs. Wade faktisch rekriminalisiert. Der Staat kann schwangeren Frauen jetzt vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, Auswirkungen sieht man bereits im ganzen Land. Die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen und auch von Homosexuellen ist passé: Der radikalste Originalist Clarence Thomas schrieb in die Mehrheitsentscheidung gegen die Abtreibung sogar ein Votum gegen den Gebrauch von Verhütungsmitteln hinein. Dass er auch gegen seiner Meinung nach sündige gleichgeschlechtliche Ehen votiert, muss nicht extra erwähnt werden.
Die Salamitaktik der Re-Christianisierung Amerikas
Der Originalismus ähnelt in seiner Struktur dem religiösen Fundamentalismus. Die "Founders" von 1787 werden zu einem Moses auf dem Sinai stilisiert, der dort "ewige" Grundsätze in Stein meißelte. Fundamentalisten aller Couleur binden die individuelle und kollektive Ausübung des Glaubens an die Heilige Schrift, dabei an die wörtliche Auslegung der Bibel und die strikte Befolgung der offenbarten göttlichen Gesetze. Am absurdesten ist das im Kreationismus, wonach das Universum buchstäblich so entstanden sei, wie es in der Genesis des Alten Testaments steht, womit wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa der Evolutionstheorie, schlicht ignoriert werden. Im amerikanischen Ultrakonservatismus verbinden sich diese beiden Stränge nicht zufällig zu einer politisch-theologischen Bekräftigung der christlichen Wurzeln und einer religiösen Bestimmung der amerikanischen Nation. Originalistische Juristen wollen mit ihrer Lesart die für die USA so konstitutive wie dauernd umstrittene Trennung von Staat und Kirche rückgängig machen. Im Staat Maine darf religiöse Erziehung jetzt staatlich finanziert werden, und dem Football-Trainer einer öffentlichen Schule im Staat Washington hat der Oberste Gerichtshof erlaubt, vor aller Augen zu beten - und so weiter und so fort geht die Salamitaktik der Re-Christianisierung Amerikas, das im Alltag doch immer säkularer und agnostischer wird.
Wenn richterliche Normenkontrolle parteipolitisch ausgeübt wird, verliert sie ihren Sinn
Unabhängige Gerichte unterwerfen die Legislative der "Rule of Law", der Rechtsstaatlichkeit, womit Rechtsakte des Kongresses sich an der geschriebenen Verfassung messen lassen und im Zweifel für nichtig erklärt werden können. Das ist in den meisten Demokratien so, mit den gewichtigen Ausnahmen Großbritanniens und der Schweiz, wo sich der Gesetzgeber nicht hineinreden lässt. Wenn richterliche Normenkontrolle aber parteipolitisch ausgeübt wird, verliert sie ihren Sinn. Beim Supreme Court in den USA hat das schon zur Forderung nach ihrer Abschaffung geführt - wenn ohnehin politisch entschieden werde, dann solle das der Kongress doch gleich selbst tun. Diese bedenkliche Entwicklung hat natürlich mit der wesentlichen Schwachstelle jeder Verfassungsgerichtsbarkeit zu tun, der Bestellung durch politische Parteien, auch in Deutschland, wo es aber einer parteiübergreifenden Zweidrittelmehrheit bedarf. Besonders aufschlussreich war die Bestellung der letzten drei Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett während der Präsidentschaft Donald Trumps, womit in dem neunköpfigen Gerichtshof eine satte Mehrheit von sechs Konservativen erreicht war, die sich sogleich auf zentrale Politikfelder auswirkte. Damit hat sich die einst randständige Doktrin des Originalismus zum Mainstream aufgeschwungen und alle Hemmungen fallen lassen. Nicht nur wurde das Abtreibungsrecht kassiert, sondern auch das Verbot des Waffentragens im Staat New York und die von Präsident Joe Biden angeordneten Impfungen in großen Unternehmen.
Die USA auf dem Weg in die Steinzeit ihrer Entstehung?
Der Originalismus entpuppt sich so als das Gegenteil seiner vermeintlichen Absicht: statt einen politisierten Richter-Aktivismus zu verhindern, wird er zu dessen Hebel. Statt prinzipientreuem Originalismus herrscht der politische Opportunismus - zugunsten einer außer Rand und Band geratenen republikanischen Rechten, die Amerika umkrempeln will. Vom Supreme Court sind noch weitere anachronistische und einseitige Entscheidungen zu erwarten, die die Vereinigten Staaten in die Steinzeit ihrer Entstehung zurückwerfen können. Die Absicht ist klar: Die bedeutsamen Entscheidungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die zur Stärkung der Bürger- und Minderheitenrechte führten und die Kompetenzen des Bundesstaates erweiterten, sollen in die Zeit vor der Aufhebung der Rassentrennung zurückgeführt werden und die Macht Washingtons gegenüber den Einzelstaaten erheblich einschränken. Exemplarisch ist die bereits verfügte Beschneidung des US-Bundesumweltamts EPA, das für den Kohleausstieg und eine national einheitliche Klimapolitik sorgen soll. Als nächstes fallen werden wohl die Begünstigungen von ethnischen Minderheiten im Bildungswesen und Sozial- und Gesundheitsleistungen für Benachteiligte.
Solche Operationen kann man im wörtlichen Sinne als Rollback bezeichnen, als Rolle rückwärts, die der immer noch jungen Demokratie in Deutschland erspart bleiben möge. Rechtsprechung darf keine Bibelexegese werden, sie ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem "original meaning", die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers, ein möglicher Ausgangspunkt ist, aber alle schon von Beginn an relevanten Varianten und alle folgenden Modifikationen den gleichen Rang haben. Verfassungen sind, wie Thomas Jefferson wusste, Brücken von der Vergangenheit in die Zukunft, keine Geisterbeschwörung vergangener Epochen.