Stadtspaziergang auf den Spuren der Lübecker Kolonialzeit
Ein Stadtrundgang durch die Lübecker Altstadt - ohne Holstentor und das Niederegger-Haupthaus kaum vorstellbar: Bei einer Führung mit Fokus auf die Lübecker Kolonialgeschichte geht es um diese lange verdrängte Zeit.
Historikerin Stella Barsch startet den Rundgang am Drehbrückenvorplatz am Kanal, denn bis vor gar nicht so langer Zeit startete hier kolonialer Tourismus: "Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts haben wir die Deutsch-Ostafrika-Linie, die im 14-tägigen Rhythmus von Hamburg aus startet. Auch ab Lübeck gibt es Kreuzfahrten in Richtung Kolonien", erklärt Barsch.
Völkerschauen und "Freakshows" in Lübeck
Die Tour mit rund 20 Leuten - darunter jüngere im studentischen Alter bis hin zu historisch interessiertem Ü60-Publikum - zieht in Richtung der klassischen Gaststätte Schiffergesellschaft. Hier berichtet Barsch von den sogenannten "Freakshows", bei denen Menschen unter anderem aus Skandinavien und Afrika unter demütigenden Bedingungen ausgestellt wurden - auch hier in Lübeck, unter anderem vorm Holstentor und auf dem Rathausmarkt: "Sehr gängig bis in die 1970er- und 1980er-Jahre. Ich hatte das letzte Mal bei der Stadtführung eine Frau dabei, die meinte: 'Das kenne ich noch - in meiner Kindheit habe ich das gesehen.'"
Eins der ältesten Objekte dieser Völkerschauen ist ein Kayak, das heute noch im Hansesaal der Schiffergesellschaft hängt - und von einem tragischen Schicksal erzählt: "Dieses Kayak ist von 1605. Es wurden auf Grönland Inuit gefangen genommen und Richtung Kopenhagen verschifft. Die sollten bei einer Völkerschau eine Bootsparade fahren", erzählt Barsch. "Ein Inuit flüchtete, ertrank in der Ostsee und wurde in Lübeck geborgen. Daher kommt dieses Kayak. Jetzt sitzt eine geschnitzte Holzfigur darin, die an den Inuit erinnern soll. Man geht davon aus, dass der mumifizierte Inuit ausgestellt war."
Postkolonialer Stadtspaziergang zum Mitmachen
Eine Pflichtstation der Tour: Wenige Straßen weiter im Günter-Grass-Haus befindet sich der nachgestellte Kolonialladen aus der "Blechtrommel". "Schauen Sie sich in dem Kolonialwarenladen um und dann sammeln wir gemeinsam Produkte, bei denen Sie glauben, dass die einen kolonialen Bezug haben", fordert Barsch die Gruppe auf.
Im späten 19. Jahrhundert begann Deutschland mit der Annexion von Kolonien in Afrika und Asien, darunter Teile der heutigen Staaten Burundi, Ruanda und Tansania. Auch wenn es die Kolonien nicht mehr gibt: Rassismus, Stereotype und Ausbeutungsverhältnisse bestehen noch heute. Dafür will Historikerin Barsch sensibilisieren. "Häufig kommt die Nachfrage: 'Wie - Lübeck hat einen Kolonialgeschichte? Das wusste ich gar nicht.' Das macht deutlich, wie wichtig es ist, da Aufklärungsarbeit zu leisten."
Kolonialzeit aus einem neuen Blickwinkel kennenlernen
Auch Philipp Rothmann hat an der Tour teilgenommen, weil er das Gefühl hatte, zu wenig über Kolonialismus in Deutschland zu wissen, erzählt er nach der Tour: "Klar hat man in der Schule etwas gelernt, aber sehr distanziert. Ich hatte nie das Gefühl, dass das auch hier passiert ist. Das war meine Motivation, mehr zu erfahren - auch über die Verantwortung, die wir heute noch tragen. Ich fand auch spannend, zu sehen, wie auch heute noch Ausbeutungsverhältnisse bestehen." Auch Eike Lüthje fand den Rundgang spannend. Sein Vater habe immer sehr positiv über die deutsche Kolonialgeschichte gesprochen: "Das Ganze wurde als große Reise idealisiert. Ich bin so aufgewachsen, dass das ganz toll ist, wenn man als Deutscher in Afrika ist. Von daher versuche ich, das aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten."
Die Lübecker Völkerkundesammlung, die die Tour veranstaltet, beschäftigt sich auch selbst mit ihrem kolonialen Erbe. Sie soll umbenannt werden in "Sammlung der Kulturen der Welt" - für Historikerin und Stadtführerin Barsch ein längst überfälliger Schritt. Die nächste Tour findet am Sonnabend, den 23. März statt.