Eine Frau mit grauen Haaren und rotem Blazer bildet mit ihren Händen ein Herz vor ihrem Gesicht © Picture alliance / Zoonar | Phongthorn Hiranlikhit

Katharsis im Friseursalon: Emanzipation durch graue Haare

Stand: 14.09.2023 08:17 Uhr

Das Drogerie-Angebot an Mitteln gegen graue Haare ist fast endlos, doch immer mehr Menschen - vor allem Frauen - entscheiden sich, zu ihrer Naturhaarfarbe zu stehen. In sozialen Netzwerken wird die Graue-Haar-Bewegung gefeiert.

von Juliane Bergmann

Der Schönheitsdruck, die viele Chemie, die Kosten: Ich hatte einige Gründe, als ich vor kurzem - mit Mitte 30 - aufhörte, meine weißen Haare zu färben. Meinen Friseur lass ich seitdem nur noch schneiden. Seine Begeisterung hielt sich zunächst in Grenzen: "Wenn du es rein monetär betrachtest: Natürlich - jede Frau, die sich nicht die Haare färbt, da klingelt’s nicht in meiner Kasse", sagt Jan Peterhänsel lachend.

Immer mehr Kundinnen stehen zu ihren weißen Haaren

Der Friseur Jan Peterhänsel © Juliane Bergmann Foto: Juliane Bergmann
In den letzten Jahren färben sich immer weniger seiner Kundinnen ihre weißen Haare, sagt Friseur Jan Peterhänsel.

Er ist selbständiger Friseur im Hamburger Stadtteil Barmbek, seit 30 Jahren im Beruf: "Vor 20 Jahren war es noch so, dass nahezu jede Kundin gesagt hat: Weiße Haare sind ein Zeichen fürs Altsein - das muss weggefärbt werden. Die gibt es auch immer noch, aber es wird weniger. Es ist nicht mehr so stark wie vor 20 Jahren."

Ungefähr die Hälfte seiner Kundinnen steht jetzt zu ihrem Naturweiß - deutlich mehr als früher. Zu sagen: Ich bekenne mich zu meinem Grau - das ist nicht schwer. Die Sache durchzuziehen hingegen, eine Angelegenheit von zwei bis drei Jahren, kostet Geduld und Nerven. Vor allem bei Sprüchen wie: "Seit wann hast du so graue Haare?" Oder: "Da bist du doch noch viel zu jung dafür!" Oder: "Ich spendiere dir mal einen richtig guten Friseurbesuch!"

Empowerment auf Social Media

Mein Schritt irritierte einige Leute. Das wiederum irritierte mich. Da entdeckte ich Instagram zum ersten Mal als einen positiven Ort - mit Posts voller Empowerment füreinander: "Mir tut es so gut, meine Haare nicht mehr zu färben und es war eine Befreiung." Oder: "Unglaublich, dass wir ein Vermögen ausgeben, unsere Haare zu färben und dann feststellen, dass unsere Naturfarbe schöner ist."

Ich stieß auf Frauen, die den selben Weg gingen. Zum Beispiel Claudia Windhagen, medizinische Fachangestellte, Anfang 50: Während der Pandemie kam bei ihr die Erkenntnis nach einer harten Schicht im Corona-Zelt. "Ich habe an dem Abend in den Spiegel geguckt und habe gedacht: Oh nein, schon wieder färben! In dem Moment dachte ich: Nee, Quatsch. Auf der einen Seite kämpfen die Menschen darum, dass sie genug Sauerstoff erhalten, dass sie am Leben bleiben - und ich denke ans Haarefärben. Das erschien mir in dem Moment so grotesk, dass ich mir ab dem Tag die Haare nicht mehr gefärbt habe."

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"Silversisters Deutschland" motivieren sich gegenseitig

Claudia Windhagen fehlten die Vorbilder. 2021 hat sie die Community "Silversisters Deutschland" ins Leben gerufen. Hier feuern sich Frauen gegenseitig an. Unter Hashtags wie #becominggrey, #greyhairtransition und #grombre teilen sie ihre Fortschritte, zählen die Wochen und Monate seit der letzten Färbung. Auch mich motiviert das, dranzubleiben. Hier geht es um mehr als nur Haare. Es ist Emanzipation. Da stimmt sogar mein Friseur mit ein: "Guck dir George Clooney an", sagt Jan Peterhänsel. "Da gibt’s keine einzige Frau, die sagt: Ach, der müsste sich aber auch mal die Haare färben, dann würde er noch ein bisschen attraktiver sein. Das ist einfach ungerecht. Bei Männern ist jedes weiße Haar cool. Da ist ein Ungleichgewicht bei weißen Haaren bei Männern und bei Frauen."

"Emanzipation sah ich immer darin, Tätigkeiten durchzuführen, die Männer auch machen. Vielleicht ist das auch in die Richtung: Männer färben nicht, warum sollen Frauen färben?", fragt sich Claudia Windhagen.

Katharsis im Friseursalon

Ich wünsche mir, dass es völlig normal ist, sich die Haare zu färben - oder eben nicht. Gut, dass es immer mehr weibliche Identifikationsfiguren gibt: die grauhaarige Frau nicht mehr nur auf der "Apotheken Umschau", sondern auch auf dem Cover der "Vogue"! Mein Friseur Jan Peterhänsel hat übrigens ganz vergessen, dass er mir meine Entscheidung zu Beginn ausreden wollte: "Ich glaube, ich war immer pro oder?" - "Nee" - "Echt nicht? Das war eine volle Fehleinschätzung von mir. Ich finde es geil mit deinen weißen Haaren! Ich entschuldige mich hiermit von ganzem Herzen für meine schlechte Beratung." Vielleicht geht Katharsis auch im Friseursalon.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 14.09.2023 | 06:40 Uhr

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