Erinnerungen an drei Lehrer: "Das hab ich in der Schule gelernt"
Wolf Schneider war der Gründer und langjährige Leiter der Hamburger Journalistenschule, für viele eine Instanz, wenn es um gutes, verständliches Schreiben ging. Martin Tschechne erinnert an ihn - und an andere Lehrer, denen er Dank sagen möchte.
Der alte Lehrer war 97, als seine Schülerinnen und Schüler ihn zu Grabe trugen. Manche von ihnen hatten selbst schon das Rentenalter erreicht, doch ihre letzte Geste sollte noch einmal zeigen: Was er sie gelehrt hatte, an Handwerk wie an Haltung, das hatte als Grundlage genügt, sie durch ein langes, oft erfolgreiches, für viele sogar beglückendes Berufsleben zu geleiten.
Die Nachrufe auf diesen Wolf Schneider sind längst geschrieben. Der Gründer und langjährige Leiter der Hamburger Journalistenschule starb am 11. November, und Nachrufe haben am nächsten Tag zu erscheinen. So wollen es die Regeln der Zunft, und die waren ihm immer wichtig. Dass so viele Artikel erschienen, lag sicherlich auch daran, dass es eben Journalisten waren, die da ihren Lehrer verabschiedeten. Angestellt beim Berliner Tagesspiegel oder bei der Zeit, beim Norddeutschen Rundfunk, der Süddeutschen Zeitung oder beim Spiegel. Sie taten also ihre Arbeit.
Wolf Schneiders Merksatz: "Qualität kommt von Qual"
Aber alle, längst wetterharte Profis, erinnerten sich daran, wie der Lehrer ihre ersten Versuche als Reporter oder politischer Kommentator verrissen hatte, gnadenlos und vor aller Augen. An den Schock und an die Selbstzweifel, die daraus folgten. An seine achselzuckend hingenommenen Merksätze, die dann doch irgendwie hängen geblieben waren: Qualität kommt von Qual. Weg mit den Adjektiven; her mit den Verben! Oder: Einer muss leiden, der Autor oder der Leser; besser, der Autor nimmt das auf sich. In einer richtigen Redaktion, so hatte Schneider erklärt, werde auch nicht mit Wattebällchen geworfen.
Und alle fingen ihre Leser dann doch noch auf, dramaturgisch geschickt, gelernt ist eben gelernt, indem sie vom befreiten Aufatmen erzählten, als endlich ernsthafte Anerkennung kam. Nicht pädagogisch dosiert, sondern ehrlich gemessen am Maßstab eines Lehrers, der sich damit auch als Kollege anbot. Oder indem sie an dessen triumphierende Freude erinnerten, wenn einer Schülerin oder einem Schüler – auch Jahre später noch – ein toller Text gelang, der Posten eines Chefredakteurs anvertraut oder vielleicht gar ein Preis verliehen wurde. Es waren viele, deren erster Gedanke in solchen Momenten an den alten Schulmeister ging. Ich gehörte auch dazu.
Drei Lehrer, die den Autor geprägt haben
Für mich sind es drei Lehrer, zwei Männer, eine Frau, die mir bis heute gegenwärtig sind. Wolf Schneider war einer von ihnen. Und immer wieder ist es, als stünde einer der drei im Geiste neben mir und erinnerte mich an einen Satz wie: Streich das Adjektiv. Oder: Ich möchte nicht wissen, warum etwas schief gegangen ist; ich möchte, dass es klappt. Sorgen sie also dafür! Oder, das war dann ein anderer Lehrer: Entspann dich; bewege dich wie eine Palme im Wind, die Dinge kommen auf dich zu. Und ich staune, wie nachhaltig solche Autorität wirkt. Wie hilfreich sie ist, wie praktisch, tröstlich. Und wie wertvoll auch nach 20 oder 30 Jahren noch.
Die große Zahl der Nachrufe auf Schneider und die Frische der Erinnerungen – sie bestätigen auch, dass ein guter Lehrer eine Instanz für den Rest des Lebens sein kann. Oder von der anderen Seite betrachtet: dass die Verantwortlichkeit nicht mit einem Abschlusszeugnis endet, einer Doktorurkunde oder der erfolgreichen Vermittlung eines Ausbildungsplatzes. Wer eine Weiche stellt, der hat damit an allem, was folgt, einen Anteil. Für Journalisten bleibt so ein Lehrer vielleicht ein Maßstab für den Umgang mit Sprache.
Oder dafür, wie einer die eigene Rolle definiert, die Rolle der Medien schlechthin: skrupulös im Umgang mit Fakten, unparteiisch aus Prinzip. Ein Journalist mischt sich nicht ein. Er meidet das Wörtchen „ich“ – außer, es geht ausnahmsweise mal um die eigene Schulzeit. Und auch für alle anderen gilt, dass jede Lehrerin, jeder Lehrer neben dem Wissen auch eine Haltung vermittelt. Verantwortungsbewusstsein, Vertrauen, eine Verbindung zur Gemeinschaft. Steht vielleicht nicht so auf dem wöchentlichen Stundenplan, ist aber die wohl vornehmste Aufgabe des Berufs.
Erinnerungen an die Grundschullehrerin
Fräulein Zemlin etwa, lange her. Grundschullehrerin in einer Zeit, in der junge Lehrerinnen mit Vornamen eben noch Fräulein hießen: 42 Sechs- und Siebenjährige saßen in ihrer Klasse, sehr unterschiedlich in Herkunft und Reife. Fräulein Zemlin teilte sie in Gruppen, benannt nach freundlichen Tieren, Hasen, Hamster und Eichhörnchen. So was in der Art. Und während sie mit den Hasen noch mal durch die Lese-Fibel ging, durften die anderen lernen, dass man für ein paar Minuten auch in eigener Verantwortung vorwärts kommen konnte.
Das klappte nicht immer, aber langsam immer besser. Sie lobte bescheidene Erfolge und schimpfte, wo es noch an Disziplin fehlte. Selber konnte sie sich bei Bedarf drei-, vier- oder fünfteilen; manchmal musste sie laut werden, aber – das begriffen und lernten auch die Hamster und die Eichhörnchen: Sie nahm jeden mit. Und schaffte es, ganz nebenbei so etwas wie Neugier zu wecken, Freude daran, etwas selbst hinzukriegen, sogar den Ehrgeiz, es zu tun. Am Sonntag war ich manchmal sauer, nicht in die Schule gehen zu dürfen. Dann malte ich ihr ein Bild, und sie hängte es am Montag neben die Bilder der anderen, denen es offenbar genauso gegangen war. Gepriesen seien solche Lehrerinnen!
Lehrer - ein Beruf, der mehr Anerkennung verdient
Völlig unverständlich, warum der Berufsstand bei uns ein so geringes Ansehen genießt! Jeder kennt doch ähnliche Beispiele, viele haben sie selbst erlebt: Die schulische Sozialpädagogin etwa, die den ängstlichen Schüler am Nachmittag unter den Arm klemmt und Handwerksbetriebe mit ihm abklappert. Was am Ende bleibt, ist erstens ein Praktikum in der Schreinerei und zweitens die prägende Erfahrung, nicht allein dazustehen. Die Lehrerin, die sich bei zögernden Eltern dafür verwendet, ihre Tochter vielleicht doch auf ein Gymnasium zu schicken. Der Trainer, der die Jungs von der Straße auf den Fußballplatz holt und ihnen zeigt, was Teamgeist und Fairness bedeuten. Der Handwerksmeister, der auf Genauigkeit pocht und damit zur Redlichkeit erzieht. Oder der alte Musiklehrer, der den gesamten Schulchor samt Orchester kurzerhand auf Busse verfrachtet, um irgendwo fern des Schulbetriebs ein Oratorium einzustudieren.
Das Werk ist mindestens eine Stufe zu schwierig für das, was die jungen Sängerinnen und Sänger bislang erreicht haben. Die Stimmung angespannt, der Chorleiter berüchtigt für sein entflammbares Temperament – wer sich nicht reinhängt, kann gleich wieder nach Hause fahren. Für die anderen aber wird es zum Erlebnis, sich das Stück zu erarbeiten und es schließlich aufzuführen. Und wenn sich Ehemalige zum Schulfest unter die Sänger des heutigen Chors mischen, dann haben sie noch jede Note im Kopf und singen mit Tränen in den Augen. Die Schule und der Chor sind ihnen ein zweites Zuhause. Vielleicht mehr als das, nämlich eine Identität.
Ein souveränes Verhältnis zur eigenen Autorität
Es ist ein Gefühl von Dankbarkeit, das mich berührt, wenn ich an meine alten Lehrer denke. Steve Nowicki ist der dritte von ihnen, Professor für klinische Psychologie in den USA, eine Begegnung, die auf ein Jahr beschränkt blieb. Aber innerhalb dieses Jahres nahm er sich alle Zeit, die nötig war. Er war es, der den Satz mit der Palme gesagt hatte, die sich anmutig im Wind bewegt – anders als die deutsche Eiche, die sich ihm knorrig entgegenstemmt. Und wirklich: Die Dinge ergaben sich von selbst, die Prüfungen, die wissenschaftlichen Papiere. Wir verbrachten ganze Nachmittage in seinem Büro oder in der Cafeteria, mehrmals die Woche, sprachen über die Versuchsanordnung empirischer Studien, ihre Auswertung am Computer, über amerikanische Musik oder den Zustand der transatlantischen Beziehungen. Oft war ich zu Gast bei seiner Familie, und als das Jahr zu Ende war, da war ich sicher, in dieser knappen Zeit weit mehr gelernt zu haben als im ganzen restlichen Studium zuhause. Noch einmal: Gepriesen seien solche Lehrer!
Was sie auszeichnet, alle miteinander, ist dreierlei. Erstens ihr souveränes Verhältnis zur eigenen Autorität – sie halten an ihr fest und geben sie doch Stück für Stück weiter. Zweitens ihre Fähigkeit, in der Gruppe den Einzelnen zu erkennen und den das auch spüren zu lassen. Und drittens: diese besondere Mischung aus Sensibilität und Distanz, die es wohl braucht, um Forderungen zu dosieren und das Resultat kühl und sachlich zu beurteilen. Alles andere wäre routiniert, und Routine ist das Letzte, was einen guten Lehrer ausmacht.
Wolf Schneider leitete eine Journalistenschule, deren Schüler als Volontäre angestellt waren. Der Lehrer war also zugleich ihr Vorgesetzter, ein Chef, der Anordnungen geben und Verweise erteilen konnte. Die Tür zu seinem Büro aber stand stets offen. Wenn sie doch mal angelehnt war, galt die Regel: bloß nicht anklopfen, immer gleich eintreten. Die Botschaft: Wir arbeiten an einer gemeinsamen Sache; wir sind Kollegen.
Und Steve Nowicki? Irgendwann wurde er emeritiert. Seine Universität spendierte ihm ein Fest für Kollegen und Studierende, eine richtige Sause mit Band und Buffet und allem, was dazugehört. Sogar von den ehemaligen Doktoranden, 63 in einer langen Laufbahn als Hochschullehrer, waren mehr als 50 gekommen, manche eingeflogen von Gott weiß woher, um ihren alten Lehrer und Mentor zu verabschieden. Einer war nicht dabei. Das war ich. Die Anreise aus Deutschland schien mir ein bisschen übertrieben für eine Party in den USA. Es war ein Fehler, der mir noch heute leid tut. Ich hätte zeigen sollen, wie dankbar ich bin.
Die zweite Heimat
Starke politische Reaktionen in Deutschland rufen vor allem Flüchtlinge und Migranten aus den arabischen Bürgerkriegsgebieten oder verarmten Ländern Afrikas hervor. Ihre Heimat ist zerstört, oder ihr Herkunftsland war ihnen nie Heimat, weil sie dort Not und Elend, Verfolgung oder Lebensgefahr erlebten. Heimat können sie nur als zweite Heimat finden, im Sinn des Filmemachers Edgar Reitz: als Heimat, der man nicht naturwüchsig angehört, sondern die man sich selbst schaffen muss. Eine solche zweite Heimat im Ankunftsland bedeutet für die Migranten vor allem eine Existenz in rechtlicher Sicherheit, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand. Doch an den Grenzen in die erhoffte neue Heimat treffen sie auf eine ambivalente Stimmung: die Willkommenskultur der einen, die sich dem Gedanken der Humanität und Caritas verpflichtet fühlen, einem kantischen Geist der "Hospitalität"; und den Abwehrreflexen und Ressentiments der anderen, die sich von den Neuankömmlingen bedroht sehen und ihre Heimat gegen die Fremden verteidigen zu glauben müssen. Weil sie fürchten, dass diese ihnen etwas wegnehmen, materielle Ressourcen, aber auch existentielle Gewissheiten. Heimat wird für sie zum politischen Kampfbegriff - wie der Publizist Christian Schüle in seinem Buch "Heimat. Ein Phantomschmerz" schrieb: "Eine Re-Romantisierung von Heimat (…) ist dieser Tage ebenso festzustellen wie die nostalgiesatte Verklärung der Boden-Scholle als Frontabschnitt im Kampf der Kulturen."