Sozialpsychologin Degen: "Sexualkundeunterricht läuft nicht gut"
Von den Studierenden an der Europa-Universität Flensburg wird die Sozialpsychologin Johanna Degen liebevoll "Dr. Tinder" genannt. Sie will den Sexualkundeunterricht verbessern: mit dem Online-Kurs "Teach Love".
Als Sozialpsychologin hat Degen viel über Partnerschaftsportale, Pornos und die Auswirkungen auf Beziehungsanbahnungen geforscht. Studierende stießen sie auf das Thema "Sexualkundeunterricht an Schulen". Im Gespräch mit Andrea Schwyzer berichtet sie, wie daraus das Projekt "Teach LOVE" wurde und was in Sachen Aufklärung und Sexualleben hierzulande alles schief geht.
"Heute fängt man etwa zwei Jahre, bevor man selbst sexuell aktiv ist, an, Pornos zu schauen"
Sie meint, die Mehrheit der Sachkunde-Lehrenden hätten durch ihr Studium bedingt Wissenlücken bei den Themen Liebe und diskursive Praktiken, Online-Dating, was es bedeute, Pornos zu konsumieren, was eigentlich sei ist bei den Jugendlichen im Moment - in deren Lebensrealitäten und der Wahrnehmung von der Welt. Sie seien aber sehr motiviert, sich weiterzubilden. Ihr Online-Kurs "Teach LOVE" würde ihnen jedoch viel Material an die Hand geben, um Fragen wie "Hatten Sie schon einmal einen Quickie oder einen Dreier" angemessen zu begegnen.
Wie ist das Projekt "Teach LOVE" entstanden?
Johanna Degen: Das Projekt - und das finde ich betonenswert - kommt von unten. Unsere Studierenden sind zu uns gekommen und haben gesagt: 'Es läuft nicht gut in den Schulen'. Ich war eigentlich in der Forschung über Beziehung, Liebe und Dating etabliert und die fanden das nah genug, um das Anliegen bei mir vorzutragen. Wir haben dann erstmal geguckt, ob das Gossip oder eine Einzelsituation ist und haben dann ein Forschungsprojekt angefangen, sind in die Schulen gegangen, haben Beobachtungsstudien gemacht, Materialanalyse, Fokusgruppeninterviews. Wir haben mit Eltern, Lehrer*innen, Schüler*innen gesprochen und haben gesehen, dass es wirklich nicht gut läuft.
Lehrer*innen zeigen sich sehr motiviert und visionär. Die haben hohe Ansprüche an sich. Die haben Lust, sich weiterzubilden. Die wollen das total gern gut machen. Die kommen aber erstmal kaum an an der Universität Ausbildung heran. Fast 90 Prozent haben darin keine Ausbildung gehabt. Sachkunderlehrer*innen hatten das im Studium, aber in erster Linie die biologischen Aspekte. Aber über die Liebe und diskursive Praktiken, über Online-Dating, wie man sich näherkommt, was es bedeutet, Pornos zu konsumieren, was eigentlich los ist bei den Jugendlichen im Moment in deren Lebensrealitäten und der Wahrnehmung von der Welt - da haben die eine Wissenslücke.
Da haben sie einen Sack mit eigenen Erfahrungen gepackt: erstmal die eigene Aufklärung, die meist auch nicht ganz glücklich verlaufen ist. Die entwickeln dann mitunter unglückliche Strategien. Die werden natürlich konfrontiert mit sehr persönlichen Fragen: "Frau Meier, hatten Sie mal einen Dreier? Hatten Sie schon mal einen Quickie? Ich sehe das in Ihrem Gesicht: Sie hatten schon mal einen!"
Und was sagt man da? Wer ist da nicht überfordert, wenn solche Fragen kommen?
Degen: Keiner mehr, der bei uns den Kurs gemacht hat! Wir entwickeln ganz konkrete Gesprächsstrategien, was man da machen kann. Und wir bearbeiten dann die eigene Sexualität, damit man dann nicht perplex und beleidigt sein muss. Wenn man keine Werkzeuge an der Hand hat, entwickelt man zum Beispiel solche Strategien wie die: Ich hatte mal ein ganz berührendes Interview. Da hat die gesagt: "Bei mir läuft der Sexualkundeunterricht super." Da habe ich gesagt: Wirklich? Das ist ja toll! Wie läuft er denn? - Ich habe einfach eine Regel eingeführt: Man darf nichts fragen! Das ist nicht böse gemeint. Das ist so eine Art Hilflosigkeit. Was mache ich mit all den Fragen, den Pornos, all den Kanälen?
Ist es denn so, dass sich Jugendliche heute in erster Linie über Pornos aufklären? Wir kennen es wahrscheinlich eher noch von der "Bravo" und dem "Dr. Sommer-Team". Läuft das heute alles über das Internet?
Degen: Es hat sich wirklich etwas geändert. Deshalb ist es auch so wichtig, finde ich, dass wir forschungsbasiert und evidenzbasiert arbeiten, denn es gibt da viele Mythen. Viele wissen gar nicht, was da los ist. Es war vor 20 Jahren wirklich so, dass man sexuelle Praktiken ausprobiert hat, dann circa ein Jahr, anderthalb Jahre aktiv war miteinander, spielerisch, Petting, aber auch Sex hatte und dann angefangen hat, Pornos zu gucken. Und das hat sich gedreht. Heute fängt man circa zwei Jahre, bevor man selbst sexuell aktiv ist, an, Pornos zu schauen. Und das ändert Sachen!
Wenn ich mir zwei Jahre Pornos angucke und kein Framing dazu habe, interpretiere ich das selbst. Dann wird das angeschaut wie eine Doku, wie eine Anleitung. Das trainiere ich mir zwei Jahre an und dann versuche ich das nachzumachen. Das führt nicht zu einem erfolgreichem ersten Mal und zu guten sexuellen Erfahrungen. Das führt zu Unsicherheiten: Ich möchte meine Freundin gar nicht schlagen, aber das ist in den Standardskripts so enthalten - Klappser auf den Po oder auch viel härtere Sachen. Ich weiß gar nicht - gehört Würgen dazu? Muss ich beim ersten Mal Analsex haben? Das ist schon eine Überlastung von sehr jungen Menschen. Das ist, sage ich oft, in den Dreißigern mehr spaßig, als mit 14.
Wie können sich Lehrpersonen an solche Themen heran wagen?
Degen: Ich würde mir wünschen, dass da eine Begleitung stattfindet, ein offener Diskurs. Wir wissen zum Beispiel: Abstinenzlehre führt zu früherer Aktivität, also das gerade nicht. Das ist messbar. Und wir wissen auch: Homosexualität kann man Niemandem einreden, die ist vor allem dispositiv. So etwas muss man wissen, damit man selbstbewusst navigieren kann. Dann kann man mit breiter Brust sagen: Nein, da ist keine Gefahr. Man sexualisiert nicht mit Aufklärung.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer.