Den Frieden gewinnen - aller akuten Gewalt zum Trotz?
Der Jurist und SZ-Journalist Heribert Prantl erteilt in seinem gerade erschienenen Buch "Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen" der neu beschworenen "Kriegstüchtigkeit" eine klare Absage.
Heribert Prantl fordert in seinem neuen Buch Respekt für den Pazifismus. Warum er das Wort "Kriegstüchtigkeit" für gänzlich unpassend hält, erklärt er im Gespräch bei NDR Kultur. Einen Auszug lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie in der ARD Audiothek.
Herr Prantl, wir erleben seit zwei Jahren eine "Zeitenwende", wenn denn stimmt, was Olaf Scholz vor zwei Jahren in seiner gefeierten Rede kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs so diskursprägend platziert hat. Sie halten dieses Wort für gänzlich unangemessen. Warum?
Heribert Prantl: Es gab keine Zeitenwende, und es gibt sie nicht. Ich verstehe, dass der Kanzler dieses Wort gebraucht hat. Es ist der Versuch, Grausamkeit zu beschreiben, dem Entsetzen darüber Ausdruck zu geben. Es ist das Schlüsselwort für die Rückkehr der Politik ins Militärische. Wenn ich die Geschichte betrachte, gab und gibt es nur Gezeiten. Es gab und gibt nur die ewige Ebbe und Flut von Gewalt und Terror. Und eine solche Flut von Gewalt und Terror erleben wir gerade wieder. Es ist keine Zeitenwende. Es ist eine neue Flut von Gewalt, und es gibt die Abbrüche und die Umbrüche, die diese Gezeiten in der politischen und wirtschaftlichen Geologie hinterlassen. Deshalb bin ich so allergisch auf den Begriff. Die einzige Zeitenwende, die den Namen verdienen würde, wären die Zeiten, in denen die Gezeiten ein Ende hätten.
Der Begriff "Kriegstüchtigkeit", von Verteidigungsminister Boris Pistorius aufgebracht, provoziert ebenfalls Ihre Widerrede. Aber beschreibt er denn nicht doch eine notwendige Erweiterung des mentalen Horizonts im historischen Moment, in dem nicht mehr nur die theoretische Wirklichkeit von Krieg antizipiert werden muss, sondern eigentlich eine eindeutige und evidente Bereitschaft, Angriffskriege zu praktizieren in Europa Realität ist?
Prantl: Ich habe nichts gegen das Wort "tüchtig", und ich habe auch nichts gegen das Wort "Verteidigung". Ich habe etwas gegen das Wort "kriegstüchtig". Er ist Verteidigungsminister, und das muss er auch sein nach dem Grundgesetz, weil das Grundgesetz den Frieden will. Weil in der Präambel der Satz steht, dass wir dem Frieden dienen sollen. Ich denke, "Tüchtigkeit" ist kein Wort, dass man mit Krieg verbinden darf. Ein Verteidigungsminister ist nicht dann ein tüchtiger Verteidigungsminister, wenn und weil er möglichst markant das Wort "Krieg" wagt. Ein Verteidigungsminister muss nicht den Krieg wagen, sondern den Frieden, und er muss alles dafür tun, ihn zu erhalten. Dazu gehören natürlich - ich bin da kein Spinner und kein Wolkenkuckucksheimer - militärische Mittel. Er muss daher dafür sorgen, dass die Verteidigungskraft ausreichend groß ist. Und trotzdem sollte Pistorius nicht für Kriegstüchtigkeit, sondern für Friedenstüchtigkeit werben.
Sie nennen in Ihrem Buch das Grundgesetz ein "Manifest des Friedens", und Sie lenken den Blick auf ein in diesem Grundgesetz formuliertes Gebot, das in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielt, das Friedensgebot. Sie finden aber, dieses Gebot sei sträflich unterbelichtet. Woran fehlt‘s?
Prantl: Wenn ich die anderen Gebote und Prinzipien des Grundgesetzes anschaue - das Rechtstaatsgebot, das Sozialstaatsgebot -, ist das alles exemplifiziert worden, es ist entfaltet worden, es ist ausgedeutet worden. Die großen juristischen Kommentare sind voller Interpretationen und verschiedener Auslegungsmöglichkeiten. Beim Friedensgebot herrscht das große Schweigen. Das Friedensgebot hängt wie eine Glocke im Glockenturm der Verfassung, aber sie wird schon lang nicht mehr geläutet. Das Friedensgebot sollte den politischen Alltag, es sollte die Regierungsarbeit bestimmen und begleiten. Und daraus ist nichts geworden.
Das Gespräch führte Ulrich Kühn.