Lebenslang Betreuerin: Wenn pflegende Eltern keine Hilfe bekommen
Eltern, die ihre Kinder pflegen, sind in der Gesellschaft weitgehend unsichtbar. Sie sind oft alleinerziehend, kämpfen im Alltag mit bürokratischen Hürden - und der häuslichen Pflege.
Wenn der Wecker von Susanna Dorst morgens klingelt, dann startet ein dicht getaktetes System. Frühstück machen, waschen, die Kinder wecken und zur Arbeit fahren. Ein System, das viele Familien kennen werden. Und trotzdem ist bei Susanna Dorst in Helse (Kreis Dithmarschen) eine Sache anders. Denn ihr Sohn Luca wird den Rest seines Lebens Betreuung brauchen. Betreuung durch sie.
Autismus und Diabetes: 24 Stunden Betreuung notwendig
Er ist Autist, hat ein Entwicklungsverzögerung und vor etwa zwei Jahren kam die Diagnose Diabetes Typ 1 hinzu. Luca ist 20 Jahre alt und einer von etwa 125.000 Menschen in Schleswig-Holstein, die zu Hause von Angehörigen gepflegt werden. 24 Stunden am Tag ist Susanna Dorst für ihren Sohn erreichbar.
Trotz Anspruch auf Pflege: Absagen von bisher allen Pflegediensten
Luca kann zwar selbstständig essen, aber seine Diabetes nicht eigenständig managen, beispielsweise das Ausrechnen der Insulinmenge, die er sich spritzen muss. Das muss seine Mutter für ihn übernehmen und wird es ihr gesamtes Leben lang tun. Freizeit? Für Susanna Dorst Fehlanzeige. Auch Sohn Luca sagt: "Ich würde mich freuen, wenn meine Mama ein bisschen Zeit für sich hätte."
Der 20-Jährige hat Pflegestufe 3. Damit hätte Susanna Dorst eigentlich Anspruch auf sogenannte Verhinderungs- oder Ersatzpflege, also die Hilfe durch einen Pflegedienst. Susanna Dorst: "Ich habe bei ungefähr sechs oder sieben Pflegediensten angerufen und bei allen hieß es, es geht nicht." Mal habe die Uhrzeit nicht gepasst, keine Kapazitäten, es könne keiner kommen.
Kaum Pflegeangebote für Menschen mit komplexen Behinderungen
Kein Einzelfall, sagt Michaela Pries, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein. Für Menschen mit komplexen Behinderungen oder für den Bereich Neurodiversität, zu dem auch Autismus gehört, gebe es so gut wie keine Angebote. Stattdessen, so Pries, erlebe man "oft lange Wartelisten und kaum Möglichkeiten einer kurzfristigen Lösung". Das sei auch für die erwachsenen Kinder mit Behinderung eine schwierige Situation. Ohne Möglichkeiten einer Mitentscheidung oder einer Auswahlmöglichkeit würden diese quasi im Rahmen der Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege irgendwo untergebracht. "Selbstbestimmte Teilhabe ist das nicht", sagt die Landesbeauftragte.
Genau dafür setzt sich der Verein "Wir Pflegen SH" ein. Sie sehen sich als Stimme der pflegenden Angehörigen in Schleswig-Holstein. Vorstandsmitglied Nicole Knudsen erklärt, dass das Problem fehlender und nicht adäquater Entlastungseinrichtungen im ganzen Land zu finden sei, jedoch vornehmlich im ländlichen Raum. Sie sagt: "Das hat zur Folge, dass die Pflegekassen 2023 bundesweit zwar rund 100 Milliarden Euro ausgezahlt hatten, die Summe der verfallenen Leistungsansprüche jedoch noch einmal 82 Milliarden Euro betrug."
Kreis Dithmarschen bestätigt geringes Angebot
Auch sie sieht vor allem bei bestimmten Personengruppen einen besonderen Bedarf: "Insbesondere für Kinder und Jugendliche, Menschen mit hohem pflegerischen Bedarf oder stark herausforderndem Verhalten sind Tages- oder Nachtpflegen, Verhinderungs- oder Kurzzeitpflegen seit Jahren Mangelware."
Das bestätigt auch der Kreis Dithmarschen, in dem Susanna Dorst und ihr Sohn Luca leben. Eine Sprecherin teilt auf Nachfrage mit: "Hinsichtlich der Kurzzeitpflege gibt es im Bereich von behinderten Menschen in Dithmarschen wenige spezifische Angebote." Und sie bestätigt auch, dass es teilweise sehr kurzfristige Absagen der Pflegedienste gebe, was auch Susanna Dorst bereits erlebt hat. Es scheine "Probleme bei der tatsächlichen Leistungsumsetzung durch die Pflegedienstleister zu geben." Gegebenenfalls könne auch der Pflegestützpunkt bei der passenden Auswahl zur Leistungsdeckung unterstützen.
Keine Zahlen zur ambulanten Verhinderungspflege
Und was sagen die Pflegedienste zur Situation? Auf Nachfrage beim Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, wie viele Plätze es in der Verhinderungspflege im Land gibt, heißt es: "Verhinderungspflege wird durch ambulante und stationäre Einrichtungen angeboten. Sehr verbreitet fangen Pflegedienste den Ausfall der Pflegeperson auf. Kapazitätszahlen liegen uns zum ambulanten Angebot der Verhinderungspflege nicht vor." Es gebe jedoch Kurzzeitpflegeplätze, das heißt stationäre Einrichtungen. Die Kapazität hier liege bei etwa 1.700 Plätzen. Jedoch "ist nicht bekannt, wie viele tatsächlich für die Kurzzeitpflege genutzt werden, denn diese Plätze können auch mit dauerhaften Bewohnerinnen und Bewohnern belegt werden."
Der Verein "Wir Pflegen SH" hat deshalb ein umfassendes Positionspapier zur anstehenden Bundestagswahl aufgesetzt und fordern nicht weniger als eine Strukturreform. Auf genau die hofft auch Susanna Dorst. An eine schnelle Verbesserung glaubt sie aber inzwischen nicht mehr.