Blick in den Abgrund: Fünf Jahre NSU-Prozess
Über fünf Jahre hat Annette Ramelsberger für die "Süddeutsche Zeitung" den NSU-Prozess begleitet. Gegenüber ZAPP zieht die Gerichtsreporterin nun eine erste Bilanz - und die ist durchwachsen: "Der NSU ist nicht vorbei", so Ramelsberger. "Die Kanzlerin hat gesagt, so etwas darf nicht mehr passieren, wir werden alles tun, um das aufzudecken. Und nach fünf Jahren kann ich nur sagen: Ich glaube nicht, dass sowas nicht noch mal passieren kann."
Seit mittlerweile 426 Verhandlungstagen läuft vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier weitere Unterstützer des NSU-Trios, bestehend aus Zschäpe und den verstorbenen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Gemeinsam sollen sie für zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verantwortlich sein. In diesen Tagen halten die Verteidiger ihre Schlussplädoyers.
Annette Ramelsberger saß nahezu an jedem Prozesstag auf der Pressetribüne. "Der Prozess ist eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft. Der Blick in den Abgrund. So klar und so eindeutig, wie Sie ihn nirgendwo sonst kriegen. Sie sehen den möglichen Tätern ins Gesicht. Sie sehen den Helfern ins Gesicht. Sie kriegen das alles vollkommen unvermittelt. Das ist nicht nur juristisch interessant. Sie kriegen ein Panoptikum der deutschen Nachwendezeit mit allen Verwerfungen, mit allen Fehlern. Sie können so genau in die deutsche Geschichte gucken, wie nirgendwo sonst", erzählt sie.
"Es gab eine braune RAF. Und es hat keiner mitgekriegt"
Als Journalistin hatte sie sich bereits in den 90er-Jahren intensiv mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigt. "Ich war ständig in Hintergrundrunden, beim Verfassungsschutz, beim BND. Und immer wenn ich die Frage stellte, gibt es eine braune RAF, dann hieß es 'Nee, gibt es nicht. Die Rechten sind zu doof dazu, haben keine Führungsfigur, und wenn die sowas planen würden, wüssten wir es'. Und dann ist es doch genauso gewesen: Es gab eine braune RAF. Und es hat keiner mitgekriegt", so Ramelsberger.
Auch die Journalisten nicht. Die Erschütterung über dieses Versäumnis ist wesentlicher Teil ihres Antriebs: "Nachdem wir erkannt haben was da Sache ist, wollen wir es jetzt endlich ernst nehmen. Wir wollen den NSU und vor allen Dingen den NSU-Prozess ernst nehmen. Auch die Opfer."
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Wiebke Ramm fertigt Annette Ramelsberger von jedem Prozesstag ein detailliertes Wortprotokoll. Einmal im Jahr werden die Protokolle in einer Sonderausgabe des SZ-Magazins veröffentlicht. "Es gibt niemand, der diesen Prozess aufnimmt. Da gibt es kein Tonband das mitläuft. Es gibt kein Video das mitläuft. Und wir haben uns dann verpflichtet, wir machen dieses Protokoll, weil es ein historischer Prozess ist und wir es nicht nachvollziehen können, dass dieser Prozess nicht in jedem Detail nachgezeichnet wird."
Betondeckel auf der Seele
Auf zwei Jahre hatte sie sich ursprünglich eingestellt, jetzt sind fünf daraus geworden. Eine enorme Belastung für alle Beteiligten. "Der Prozess verändert einen stark. Er liegt wie ein Betondeckel auf der Seele und man weiß überhaupt nie, wann er endlich weggeht, weil dieser Prozess ja immer weiter geht. Sie sind so vollkommen fremdbestimmt. Wir kennen uns alle, wir wissen, dass wir da zusammen in diesem Gerichtssaal sitzen und nicht voneinander loskommen. Bis zum Ende. Das ist für einen Journalisten glaube ich noch schlimmer als für jemand anderen. Weil man liebt ja neue Themen, wieder was Neues anzufangen, und Sie können nicht."
Selbst in der eigenen Redaktion sei es nicht immer leicht, das Thema NSU zu platzieren: "Ich bin der Quälgeist, der die Redaktion immer wieder dran erinnert, heute ist ein wichtiger Tag, heute ist ein wichtiger Zeuge, wir sollten heute eine große Zusammenfassung schreiben, was in dieser Woche passiert ist", so Ramelsberger. "Und alle anderen kommen natürlich und sagen: Wir haben eine Regierungsbildung, wir haben eine geplatzte Koalition, wir haben einen neuen Ministerpräsidenten, das ist alles neu, neu, neu. Im NSU-Prozess ist nichts mehr neu. Wir wissen mittlerweile alles. Und dann einer Redaktion vollkommen gegen das eigentliche journalistische Selbstverständnis zu sagen, wir müssen über Dinge berichten, die wir schon kennen. Das ist eigentlich wirklich schon contra professionem und trotzdem muss ich es tun", sagt sie.
Der längste und aufwändigste Prozess der deutschen Geschichte
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass einer der längsten und aufwändigsten Prozesse der deutschen Geschichte diesen Sommer nun doch zu Ende geht. Die Bundesanwaltschaft fordert für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe eine lebenslange Freiheitsstrafe und anschließende Sicherungsverwahrung. Ihre Wunschverteidiger fordern maximal zehn Jahre Haft. Ralf Wohlleben, der wegen Beihilfe vor Gericht steht, soll zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt werden, seine Verteidigung hält ihn für unschuldig.
Annette Ramelsberger hofft auf ein klares Urteil, noch vor der Sommerpause: "Ich wünsche mir, dass der Rechtsstaat klar macht, dass der Rechtsstaat denen gewachsen ist, die ihn in Frage stellen wollen und die so tun, als wenn sie das Recht in eigene Hände nehmen könnten. Von diesem Prozess soll ein Zeichen ausgehen an alle Menschen, die hier leben, dass sie sicher sind, und dass der Staat es nicht zulässt, dass man sie einfach tötet."